August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 860, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 45, 29. Oktober 1887, S. 6]

Aus Norddeutschland, 24. Oktober. Über den Ausfall der sächsischen Landtagswahlen, auf die wir in unserem letzten Bericht kurz zu sprechen kamen, müssen wir heute noch mit einigen Worten zurückkommen. Das gesamte Stimmenresultat stellte sich für die Sozialisten weit günstiger, als es auf den ersten Anblick schien. Die Sozial-Demokratie, die in 18 von 29 in Frage kommenden Wahlkreisen eigene Kandidaten aufstellte, erlangte im Ganzen 13.905 Stimmen, die vereinigten Gegner erhielten 33.450. In 10 Wahlkreisen, in welchen die Partei keine Kandidaten aufstellte, wurden 17.069 Stimmen abgegeben, rechnet man sämtliche Stimmen der Gegner zusammen, so erhielten dieselben 50.515 Stimmen und würde, wenn die Abgeordnetensitze nach Verhältnis der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen verteilt würden, statt das sie von dem zufälligen Resultat in den einzelnen Wahlkreisen abhängen, die Sozial-Demokratie auf 6 Sitze, statt des einen, den sie erhielt, Anspruch haben. Solche Berechnungen haben allerdings keinen praktischen Wert, sie zeigen nur, wie die Dinge aussähen, wenn sie vernünftig eingerichtet würden. Dazu gehörte freilich in erster Linie auch ein anderes Wahlgesetz als das gegenwärtige, das einen großen Teil derjenigen vom Wahlrecht ausschließt, die selbst das Reichstagswahlrecht besitzen.

Das sächsische Wahlgesetz verlangt, das der Wähler einen Steuersatz von mindestens 3 Mark direkter Staatssteuer entrichte, eine Steuer die erst bei einem Jahreseinkommen von über 600 M. eintritt. Ein großer Teil der Arbeiter besitzt aber dieses wahrhaftig sehr mäßige Einkommen nicht einmal. In manchen unserer Industriebezirke sind 50-60%, der Steuerpflichtigen unter diesem Satz eingeschätzt, und es werden gerade jene Wahlkreise am meisten getroffen, in welchen die Sozial-Demokratie den stärksten Anhang hat. Unter solchen Verhältnissen kann also von einer an Zahl namhaften Vertretung der Partei im Landtag niemals die Rede sein. Unter den allergünstigsten Umständen könnte sie es unter der Herrschaft des gegenwärtigen Wahlgesetzes auf höchstens 8-10 Sitze bringen. Denn neben dem Zensus für das aktive Wahlrecht spielt auch der Zensus für das passive Wahlrecht – die Wählbarkeit zum Abgeordneten – eine wichtige Rolle. Hierfür wird ein Steuersatz von 30 M. direkter Staatssteuer verlangt, der einem Einkommen von 1900-2200 M. entspricht, außerdem muss der zu Wählende das 30. Lebensjahr überschritten haben. Auf der einen Seite fehlen also die Wähler, auf der anderen die zu Wählenden. Danach kann die Wahl nur eine rein agitatorische Bedeutung erhalten und als solche ist sie allerdings nicht zu unterschätzen. Dafür spricht der Eifer, womit alle bürgerlichen Parteien vereinigt gegen die sozialdemokratischen Kandidaturen kämpfen; dafür spricht ferner die Geschlossenheit, mit der alle Parteien im Landtag den natürlichsten und selbstverständlichsten Forderungen der sozialdemokratischen Abgeordneten entgegentreten. In Sachsen, als dem industriell entwickeltsten Lande in Deutschland, zeigt sich am schlagendsten wie wenig das Parlament der Boden ist, auf dem die Klassenkämpfe endgültig ausgefochten werden. Und dennoch ist das Auftreten der sozialdemokratischen Abgeordneten für die Entwicklung der Partei von großer Bedeutung. Die einschneidende Kritik, welche an den verschiedensten Maßnahmen und Einrichtungen der Staatsverwaltung und der Behörden geübt wird, veranlasst, das man von jener Seite Vieles unterlässt, was man sich ohne dieses Wächteramt herausnehmen würde. Die Anträge, welche im Interesse der arbeitenden Klasse von den sozialdemokratischen Abgeordneten gestellt, aber von der die Interessen der Bourgeoisie vertretenden Majorität regelmäßig abgelehnt werden, führen zu Debatten, die nach Außen aufklärend und aufregend wirken, weil sie der Masse zeigen, was sie von dem herrschenden System zu erwarten haben. In diesen beiden Dingen liegt heute der Schwerpunkt aller parlamentarischen Tätigkeit sozialistischer Abgeordneter, eine Tätigkeit, der die deutsche Arbeiterbewegung einen großen Teil ihrer Bedeutung und ihrer Erfolge zu danken hat. Die Partei wird nie mächtig jetzt genug werden auf dem Boden des bürgerlichen Parlamentarismus wichtige prinzipielle Forderungen durchzusetzen Das können und werden, die Vertreter des Bürgertums nie zugeben, eher wird der gewaltsame Kampf um die Macht entbrennen. Aber die Partei kann die Vertreter der herrschenden Klassen moralisch an den Pranger stellen, ihnen Konzessionen aller Art abtrotzen und sie zum Bewusstsein ihrer Unrechtsstellung nötigen Die Partei kann ferner von der parlamentarischen Tribüne herunter ihre Grundsätze propagieren und sie in Kreise und Gegenden tragen, wo ohne dieses Mittel ihre Ideen noch auf sehr lange Zeit hinaus unbekannt und unwirksam blieben.

Wie die Vorkämpfer des Bürgertums sich der mittelalterlichen Ständevertretungen bedienten, um den modernen bürgerlichen Ideen zum Durchbruch und zur Anerkennung zu verhelfen, so müssen die Vertreter des Proletariats die parlamentarischen Vertretungsformen des Bürgertums benutzen, um die neuen sozialistischen Ideen zu propagieren und den Boden für ihre Verwirklichung zu bereiten. Ohne Propaganda geht’s nicht und die Negation, die nichts tun will, weil sie nicht Alles haben kann, vergisst, das man jeder belagerten Festung sich schrittweise, oft auf Umwegen nahen muss, um sie schließlich im richtigen Moment im Sturm erobern zu können. Und die Sozial-Demokratie hat alle Ursache mit den Erfolgen ihrer Taktik und ihres Vorgehens zufrieden zu sein. Wenn auch zunächst noch in der Zahl ihrer offenen Anhänger die schwächste Partei, ist sie in Bezug auf die Macht der Ideen die stärkste. Sie beherrscht tatsächlich das Feld. Allen Kombinationen der Staatsmänner in Bezug auf ihre innere wie ihre äußere Politik liegt die Stellung der Sozial-Demokratie zu den laufenden Tagesfragen zugrunde, sie ist ein Machtfaktor, der an Bedeutung täglich zunimmt, und diese Bedeutung wächst in demselben Maße wie die Partei zeigt, dass sie aller entscheidenden Fragen sich zu bemächtigen versteht und Stellung zu ihnen nimmt. Aber bei dieser Stellungnahme darf keine schlaue diplomatische Berechnung, kein diplomatisierendes Kompromisseln im Spiele sein, das nur geeignet ist, die Massen zu verwirren und den klaren Blick zu trüben. Die Parlamentsspielerei, die in der Sucht gipfelt, um jeden Preis „praktisch“ zu sein und kleine aber sehr zweifelhafte „Erfolge“ zu erringen, muss den Parteivertretern fern bleiben. sie dürfen keinen Augenblick ihre Gegner darüber im Zweifel lassen, das sie die Feinde der bestehenden Unordnung, die sich als Ordnung ausgibt, sind und dass es eine Versöhnung zwischen den beiden Lagern, die zwei entgegengesetzten Weltanschauungen huldigen, nicht gibt. Wird diese Taktik strenge innegehalten, so kann der Erfolg auf und bei den Massen nicht ausbleiben.

Der große Streit im Reichstag, der anlässlich der Branntweinsteuervorlage entbrannte und darin gipfelte, in wie weit die Steuerdifferenz von 50 und 70 M. für den Hektoliter kontingentierten Spiritus in der Preisbildung zum Ausdruck kommen werde, ist, scheint es, zu Gunsten Derer entschieden, welche voraussagten, das der höhere Steuersatz für den Marktpreis maßgebend sein werde. Schon jetzt wird offiziös zugegeben, das der allgemeine Preis um 12-13 M. über den Steuersatz von 50 M. gestiegen sei und die Wahrscheinlichkeit vorliege, das er noch weiter steigen werde, sobald erst die alten Spiritusvorräte aufgezehrt seien. Mit anderen Worten, die Brenner, doch vorzugsweise die großen Grundbesitzer der Ostprovinzen haben schon jetzt von jedem Hektoliter Spiritus, den sie mit 50 M. versteuern, einen Extragewinn von 12-13 M. in der Tasche, mit der begründeten Aussicht, diesen Vorteil auf Kosten der armen Steuerzahler auf 20 M. per Hektoliter wachsen zu sehen. Der Diebstahl auf die Taschen des armen Mannes ist eklatant. Aber wie nach dem französischen Sprichwort bei dem Essen erst der Appetit kommt, zeigt sich auch hier wieder. Nicht genug mit diesem einen Attentat auf den armen Mann, plant man heißhungrig ein zweites: Die Verdoppelung der Getreidezölle. Die schamlose Gier unserer Agrarier kennt eben keine Grenzen mehr. Nun, wem die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit, und die Art wie heute im Deutschen Reich auf Kosten der Armen zu Gunsten der Reichen Steuerpolitik und „Sozialpolitik“ getrieben wird, dürfte ihm bittere Früchte tragen. Der Tag kommt, wo die Expropriation des Grundbesitzes und seine Umwandlung in Gemeineigentum dass allgemeine Feldgeschrei werden wird, weil dieser Umwandlungsprozess allein die arbeitenden Massen vor der immer maßloser werdenden Ausbeutung durch unsere Bodenmonopolisten retten kann. Wer nicht hören will, muss fühlen.

Das Büro des Reichstages versandte in diesen Tagen die Zusammenstellung der Berichte der Fabrikinspektoren für das Jahr 1886 an die Mitglieder des Reichstags. Der Bericht bildet nur einen dünnen Band von 142 Seiten mit einer Reihe von Tabellen im Anhang. Je mehr Lärm man von der Sozialreform macht, desto schwächer werden die offiziellen Mitteilungen, auf Grund deren die Notwendigkeit gründlicher Sozialreformen erst in vollem Umfang zu erkennen wäre. Wir kommen nach Einsichtnahme noch einmal auf das offizielle Aktenstück zurück.

Die Leipziger Polizeibehörde zeigt ihren Eifer für sozialreformerische Maßregeln dadurch, das sie neuerdings wieder sieben Arbeiter auf Grund des kleinen Belagerungszustandes auswies und einen Gewerkverein der Steinetreiber auflöste. Das wirkt aufklärend.


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