Clara Zetkin: Der Reichstag

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 25. Jahrgang, Nr. 25, 3. September 1915, S. 165 f.]

Als im August vor einem Jahre der Reichstag zusammentrat, geschah es unter dem Eindruck einer unerwarteten Katastrophe, in der ungeheuren Erregung der ersten Kriegstage, in dem Sturme aufgepeitschter Leidenschaften, im Nebel sich kreuzender, überstürzender, widersprechender Berichte, Falschmeldungen, diplomatischer Kundgebungen. Die Zukunft des Krieges war dunkel und ungewiss, ebenso unklar war der Fortgang der politischen und wirtschaftlichen Ereignisse im Innern des Landes. Die Parole der Regierung, dass der Krieg ein Verteidigungskrieg sei, wurde zum einigenden Band für alle Parteien, einschließlich der offiziellen Sozialdemokratie. Das Wort von der Neuorientierung der inneren Politik schien bedeutsame Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen. Der Zustand des „Burgfriedens“ wurde geschaffen.

Die folgenden Kriegstagungen des Reichstags im Dezember, im März, im Mai fanden eine zum großen Teil geklärte Lage vor. Nicht nur, dass in der Zwischenzeit sämtliche beteiligten Regierungen sich zur Schuldfrage an dem ungeheuren Weltbrand geäußert hatten und dadurch jede Diplomatie die Kundgebungen der anderen korrigiert oder ergänzt hatte, auch die militärische Lage war insoweit geklärt, als der reine Verteidigungszweck erreicht, die Gegner von allen Grenzen Deutschlands zurückgeworfen, die deutschen Armeen bereits feste Positionen in Ost und West auf feindlichem Boden innehatten.

Klar und deutlich waren auch die inneren Wirkungen des Krieges hervorgetreten. Auf wirtschaftlichem Gebiet war es weniger die gefürchtete Arbeitslosigkeit, die zu ernsten Besorgnissen Anlass gab, als die von Tag zu Tag steigende Teuerung aller Lebensmittel und der wichtigsten sonstigen Gebrauchsgegenstände. Die Ursachen lagen ebenfalls offen zutage. Sie waren zum kleinsten Teil in dem Aushungerungsplan der Gegner zu suchen, der hatte sich als irrig erwiesen, sondern in den Preistreibereien und der Profitjägerei bestimmter Bevölkerungsschichten. Sozialdemokratie und Gewerkschaften hatten auch längst auf die einzig möglichen, durchgreifenden Hilfsmittel aufmerksam gemacht und der Regierung ihre Ratschläge und Forderungen unterbreitet. Die Behörden hatten aber nur verspätet und nur mit halben Maßnahmen eingegriffen, mit dem Ergebnis, dass am Ende des ersten Kriegsjahres die Teuerung schwerer denn je auf den unbemittelten Bevölkerungsklassen lastete. Der „Burgfrieden“, der für die militärischen Interessen von Bedeutung ist, hatte durch die Beschränkung der Press- und Redefreiheit ganz automatisch den wirtschaftlichen Missständen Vorschub geleistet.

Unter diesen Umständen war es selbstverständlich, dass immer weitere Volkskreise sich mit der Frage des Friedens zu beschäftigen begannen und die freie Erörterung der Kriegsziele wünschten. Die Kriegsziele sind entscheidend für den Charakter und die Länge des Krieges. Die rechtsstehenden Parteien und großen Wirtschaftsverbände traten nun trotz des Burgfriedens offen für Gebietserweiterungen ein. Nicht mehr die Frage der Verteidigung, die Fragen der sogenannten „Sicherung“ vor künftigen Angriffen und der zukünftigen Stellung Deutschlands auf dem Weltmarkt standen nun im Vordergrund des Interesses. Die Worte des Kanzlers von den „realen Garantien“ ließen äußerlich betrachtet zweierlei Auslegungen zu. Die einen erläuterten sie im herkömmlichen Sinne von militärischen Grenzregulierungen, Landerwerb, Ausbau der Rüstungen, ein anderer Teil hoffte auf Anbahnung freundschaftlicher Verhältnisse durch weise Rücksicht und Beschränkung. Es ist selbstverständlich, dass die Regierung, solange die Waffen sprechen, auf eine kluge Unbestimmtheit des Ausdrucks nicht verzichten kann.

Aus Anlass der Jahreswende des Krieges hat die Regierung den Schleier ihrer Kriegsziele um einen weiteren Grad gelüftet. Der Kaiser sprach von „politischen, wirtschaftlichen und militärischen Sicherheiten“. Der Hauptträger großdeutscher Weltmachtspolitik, das Großbürgertum, wie es in der nationalliberalen Partei organisiert ist, hat nun mit Bezug auf diese Äußerungen, und nachdem einzelne Abgeordnete mit dem Reichskanzler konferiert haben, eine bedeutsame Kundgebung erlassen. Die von dem Zentralvorstand der nationalliberalen Partei veröffentlichte Entschließung besagt, dass das Ergebnis dieses Krieges „nur ein Friede sein kann, der unter Erweiterung unserer Grenzen in Ost und West und Übersee uns politisch, militärisch und wirtschaftlich gegen einen neuen Überfall sichert und die ungeheuren Opfer lohnt“. – Die großen nationalliberalen Tageszeitungen haben hierzu festgestellt, dass dieses Programm sich mit dem der Regierung decke. Die Zensur hat diese Auslassungen gestattet, die Regierung hat nicht widersprochen. Damit ist die eine Tatsache zweifelsfrei festgestellt, dass die Kriegsziele jenseits des engeren Verteidigungszwecks liegen.

Auch die Fortschrittliche Volkspartei, die Vertreterin des früher demokratischen Kleinbürgertums, hat sich diesem Kriegsprogramm angeschlossen. Sie lässt keinen Zweifel darüber, dass sie zwar gegen uferlose Annexionslust, aber für „notwendige Gebietserweiterungen“ zu haben ist. Die „Frankfurter Zeitung“ weiß zu berichten, dass auch weite Kreise der Sozialdemokratie für diese Kriegsziele eingenommen sind.

Angesichts dieser äußeren und inneren Lage nun ist der Reichstag diesmal zusammengetreten und hat fast einstimmig die Riesensumme von zehn Milliarden neuer Kriegskredite bewilligt, womit die Staatsschuld auf 36 Milliarden anschwillt. Auch die Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion hat ohne jede Einschränkung von Bedeutung der Regierung mit der Etatbewilligung ihr Vertrauen ausgesprochen. Ihr Sprecher in dieser Angelegenheit, Genosse Dr. David, hat sich darauf beschränkt, in höflicher und konzilianter Form die Regierung auf die herrschenden Missstände aufmerksam zu machen. Man hat also die Tonart des Parteivorsitzenden Haase in der Fraktion missbilligt.

Beachtsam ist die starke militärpolitische Färbung der Rede Davids. Die Hoffnung, dass die Regierung nicht noch einmal mit einer Kriegskreditvorlage an den Reichstag herantritt, wird auf die glänzenden Leistungen der tapferen Truppen gestützt. Die Versorgung der Kriegsinvaliden und heimkehrenden Krieger wird als Dankesschuld für die im Feld geleisteten Dienste angesprochen. Um die Stimmung der Mannschaften zu heben, soll gegen schlechte Behandlung und ungenügende Ernährung eingeschritten werden. David fordert die Abschaffung von Missständen zum Zwecke der Hebung der wirtschaftlichen und seelischen Widerstandskraft des Volkes. Die Zensur wird als selbstverständliche Beschränkung der öffentlichen Kritik stillschweigend anerkannt, um so mehr sei es jetzt Pflicht des Parlaments, auf Abhilfe zu dringen. Die Nahrungsversorgung des Volkes wird mit der Munitionsversorgung des Heeres verglichen. Auch der Kampf gegen den Lebensmittelwucher erhält durch die Gegenüberstellung mit den Blutopfern der Volksmassen Nachdruck und Bedeutung. Die Forderung erhöhter Unterstützung der Kriegerfamilien wird mit der physischen und seelischen Widerstandskraft des Volkes begründet. Noch in keiner einzigen Reichstagstagung während des Krieges hat die Fraktion so rückhaltlos die Durchhaltung des Krieges als das „Gebot der Stunde“ gekennzeichnet. Die Rede Davids liest sich als eine einzige, markante Abschüttelung der Veröffentlichung Haases und der hinter ihm stehenden Parteiopposition.

In der Friedensfrage fordert die Fraktion, dass dem Kriege, sobald das Ziel der „Sicherung des Reiches“ erreicht und die Gegner zum Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird, der Frieden und Freundschaft mit dem Nachbarvolk ermöglicht. Auch in dieser Frage übernimmt also die Partei den Begriff der „Sicherung“, schließt sich rückhaltlos der Negierung an. Nur „Eroberungssucht“ dürfe den Krieg nicht um einen Tag verlängern.

Der Sprecher der Fraktion erwartet zum Schluss, dass dem deutschen Volke auch ein größeres Maß politischer Freiheit gewährt wird. Der Grundton der Rede Davids ist aber ein rückhaltloses Vertrauen zur Regierung, wogegen alle gerügten Missstände als von untergeordneter Bedeutung erscheinen. Das ist ein bedeutsames und wichtiges Merkmal unserer Zeit, ein vollkommen Neues in der Partei des Klassenkampfes und demokratischen Misstrauens.

Sowohl der Reichskanzler als der Staatssekretär Helfferich haben sich mit aller im Augenblick möglichen Deutlichkeit über die Absichten der Regierung ausgesprochen. Der Krieg soll durchgeführt werden, bis „jene Völker von den wahrhaft Schuldigen den Frieden fordern“. Ein Neues muss erstehen, eine „starke und unantastbare Stellung“ Deutschlands. Die englische Politik des Gleichgewichts der Mächte muss verschwinden. Deutschland muss sich seine Stellung so ausbauen, so festigen, so stärken, dass die Mächte nie wieder an eine Einkreisungspolitik denken. Die „Freiheit der Weltmeere“ für alle Völker soll errungen werden. [etwa zwei Zeilen Zensurstreichung] Staatssekretär Helfferich hat ebenfalls einen wertvollen Hinweis gegeben auf die beabsichtigte Lösung der Frage der Kriegsunkosten. „Die Anstifter des Krieges mögen die dauernde Last der Milliarden tragen, mögen davon durch Jahrzehnte getroffen werden, nicht wir.“ Man wird also auf Kriegsentschädigung nicht verzichten.

Mit der Etatbewilligung hat die Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion diesen Kriegszielen zugestimmt. Einzig Genosse Liebknecht hat dagegen gestimmt. 29 Mitglieder der Fraktion haben laut „Vorwärts“ vor der Abstimmung den Saal verlassen. Die Abstimmungen erfolgten so überraschend, dass ein Teil der Abgeordneten gar nicht im Saale anwesend waren.


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