[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 25. Jahrgang, Nr. 11, 19. Februar 1915, S. 61 f.]
Immer zahlreicher werden die Kundgebungen, in denen sozialistische Frauen aller Länder das Banner des Friedens erheben. In der ersten Reihe dieser Genossinnen stehen nun zum Ruhm der proletarischen Internationale die sozialistischen Frauen Frankreichs. Im Herzen des internationalen Sozialismus, das für die Sache der Arbeiterklasse ganz Europas seit mehr wie einem Jahrhundert so oft schon geblutet hat, in Paris haben tapfere Frauenhände der chauvinistischen Meute zum Trotz und unbekümmert um die Fallstricke einer „vaterländischen“ Zensur den Aufruf der internationalen Sekretärin für den Frieden verbreitet. Das Echo dieser mutigen sozialistischen Tat wird den Friedenswillen der proletarischen Frauen in allen Ländern stärken.
Die klassenbewussten Proletarierinnen werden die Losung des Friedens sicher nicht für einen Augenblick mehr fallen lassen. Es ist dies ihr erster und bedeutsamster Anspruch auf eine geschichtliche Rolle in diesen furchtbaren Zeiten. Die Frauen des Proletariats aller Länder sind es, die als erste über die Schlachtfelder hinweg einander die Hand reichen, um gemeinsam für die Rückkehr des Friedens und der Zivilisation zu wirken. Dieses Anzeichen des wiedererwachenden Sozialismus als eines geschichtlichen Faktors ist zugleich ein Anzeichen dafür, das in der neuen proletarischen Internationale, die aus den Trümmern auferstehen muss, dem weiblichen Geschlecht eine viel tätigere Rolle, eine viel höhere Mission zufallt als bisher.
Doch um den Friedenswillen der sozialistischen Frauen zur wirksamen Kraft zu gestalten, müssen wir uns klar werden über den eigentlichen Sinn und Charakter dieser Losung. Der „Wunsch nach Frieden“ besagt an sich noch gar nichts. Mit frommen Wünschen ist, wie es heißt, der Weg zur Holle gepflastert, Und wahrhaftig, der Weg zur gegenwärtigen Holle des nie dagewesenen Weltkriegs ist buchstäblich mit frommen Friedenswünschen der sozialistischen Parteien und mit Friedensresolutionen der sozialistischen Kongresse gepflastert gewesen. Der politisch und historisch wirksame Wille darf sich nicht auf nebelhafte Ziele richten, er muss scharf, klar und rückhaltlos seine wirkliche Aufgabe ins Auge fassen. Dass aber die Losung des Friedens gar verschieden aufgefasst und bewertet werden kann, beweist ein Blick auf unsere sozialistische Parteipresse in Deutschland wie im Ausland.
Wie über die Frage des Krieges, so gehen über die des Friedens die Meinungen in unseren Reihen naturgemäß auseinander, ja sie gehen nach drei Richtungen auseinander. Ausgangspunkt bei allen ohne Ausnahme ist die Versicherung, das man den Frieden wünsche Fragt man den Reichskanzler Bethmann Hollweg, so wird er selbstverständlich ausrufen: Aber Deutschlands Reichsregierung wünscht ja seit Jahrzehnten nichts sehnlicher als die Erhaltung des Friedens! Beweis: alle diplomatischen Noten, die wir über die Vorgeschichte des gegenwärtigen Krieges veröffentlicht haben. Fragt man den Genossen Scheidemann, so antwortet er: Aber die deutschen führenden Instanzen der Sozialdemokratie haben seit Beginn des Krieges schon dreimal ihrem Friedenswillen Ausdruck gegeben: in den beiden Fraktionserklärungen sowie im Neujahrswunsch des Parteivorstandes an den Labour Leader. Dennoch hält heute sowohl der Reichskanzler wie Genosse Scheidemann die Betonung des Friedenswillens durch deutsche Arbeiter für verfuhrt und unangebracht. Der Friede sei noch nicht reif, die Zeit dafür noch nicht gekommen. Vorläufig sei die Losung: „Durchhalten!“ das heißt – weiter Krieg führen.
Fragt man, wann denn nach dieser Auffassung die Zeit gekommen sein wird, hinter die Friedenswunsche die Tat zu setzen, so ergibt sich im Grunde genommen eine einfache Antwort: Wenn die deutsche Regierung Frieden schließen wird, dann wird auch für die deutsche Arbeiterklasse die richtige Zeit gekommen sein, vom Frieden zu reden. Dieser Auffassung hat das Parteivorstandsmitglied Genosse Scheidemann Ausdruck gegeben und mit ihm eine ganze Reihe Parteiblätter sowie die Mehrheit der Reichstagsfraktion. [ca. sieben Zeilen Zensurstreichung]
Eine andere Strömung kam neulich in einigen unserer Blätter zum Wort, man begegnet ihr auch im neutralen Ausland, namentlich in Holland, und auf der Kopenhagener Sozialistenkonferenz machte sie sich geltend. Sie begnügt sich nicht mit dem frommen Schweigen und Abwarten. Sie betont, dass die Volksmassen ihren Friedenswunsch laut aussprechen müssen. Ja, sie legt den Nachdruck auf eine ganz bestimmte Gestaltung des Friedens, den wir zu wünschen haben. Hier treten gewisse Formulierungen auf, die sich neben der Forderung: „keine Landerwerbungen“ hauptsächlich richten auf die sogenannte „Abrüstung“, auf „Abschaffung der geheimen Diplomatie“, auf die Schaffung eines „europäischen Staatenbundes“, und was dergleichen schöne Dinge mehr sind. In verschiedenen Variationen kehren diese Losungen immer wieder, alle von der wohlgemeinten Sorge diktiert, den Frieden, wenn er endlich kommt, nun auch dauerhaft zu machen. Was diesen wohlmeinenden Plänemachern des Friedens vorschwebt, ist das schone Phantom vom „letzten Kriege“, mit dem wir uns über die Schrecken der Gegenwart trösten sollen.
[ca. eine halbe Spalte Zensurstreichung]
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