Zum zweiten Male während des Weltkriegs feiert die Christenheit ihr Weihnachten. Zum zweiten Male läuten die Glocken zum Feste der Liebe, während die Kanonen das Lied des Hasses brüllen. Zum zweiten Male singt die fromme Gemeinde von der fröhlichen, gnadenbringenden Weihnachtszeit, während draußen im Kriegsgebiet sich die Blutopfer häufen.
„Friede auf Erden“ – hängt nicht der Friedensgedanke mit der christlichen Weihnachtsfeier unlöslich zusammen? Die Kirche gedenkt ja an diesem Tage der Geburt des „Friedensfürsten“, und alle Ausmalungen der messianischen Herrlichkeit im Alten wie im Neuen Testament entrollen uns das Bild eines dauernden, alle Menschen beglückenden Friedens. Der Friede war eben von jeher die Sehnsucht aller Mühseligen und Beladenen, aller derer, die von ihrer Hände Arbeit leben. Der Krieg, das empfand das schaffende Volk schon vor zweitausend Jahren, raubt dem Armen auch noch das Wenige, das er hat. Der Krieg, auch der siegreiche Krieg ist nach dem Ausspruch Moltkes ein nationales Unglück: wer kann das besser erkennen und empfinden als der um seine Existenz schon im Frieden hart ringende Proletarier?
So mahnt denn das Weihnachtsfest zunächst die christliche Kirche an ihre Aufgaben: Hüterin des Völkerfriedens, Anwalt einer glücklichen Menschheitszukunft zu sein. Aber die Geschichte der christlichen Kirche ist genau so mit Blut geschrieben wie die Geschichte der weltlichen Staaten. Im Mittelalter war ja auch die Kirche eine irdische Großmacht und in alle wirtschaftlichen und politischen Händel der Zeit verstrickt. Seit der Reformation freilich ist sie aus einer Herrin zur bloßen Bundesgenossin, ja vielfach zur Dienerin des bürgerlichen Nationalstaats herabgedrückt. Zumal den evangelischen Landeskirchen sind darum die Hände gebunden. Sie könnten keine selbständige und tatkräftige Friedenspolitik treiben, wenn sie auch wollten. Über einzelne Worte der Sehnsucht und fromme Friedenswünsche kommen ihre Diener nicht hinaus, selbst in der Weihnachtszeit nicht. Wo sollten sie auch die Kraft dazu hernehmen? Etwa aus der viel genannten „Idee des Christentums“ heraus? Aber die Ideen machen ja die Geschichte nicht, sondern die großen materiellen Interessen ganzer Gesellschaftsklassen. Diese formen und ändern die Ideen nach ihrem Bilde.
Der katholischen Kirche muss es zugestanden werden: sie ist die einzige religiöse Macht zurzeit, die ihren Beruf, den Frieden zu wahren, nicht ganz vergessen hat. Wieder hat in diesen Tagen der Papst wie schon öfters warme, von innerer Bewegung getragene Worte gegen die zerstörenden Gräuel des Krieges und zugunsten eines raschen, „gerechten und dauerhaften“ Friedens gefunden. Beim Zusammentritt des Konsistoriums hat er eine Ansprache gehalten, die in ihrem entscheidenden Teile die Aufmerksamkeit der um den Frieden ringenden Proletarier wohl verdient. Der Papst hat es als Pflicht des „apostolischen Stuhls“ bezeichnet, „aufs Neue auf dem einzigen Mittel zu bestehen, das schnell ein Ende dieses schrecklichen Weltbrandes herbeiführen könnte, um einen derartigen Frieden vorzubereiten, wie er von der gesamten Menschheit glühend ersehnt wird, das heißt einen gerechten, dauerhaften und nicht nur für einen Teil der Kriegsführenden nutzbringenden Frieden“. Den Weg hierzu sieht der Papst in einem direkten oder indirekten Gedankenaustausch, der „mit aufrichtigem Willen und reinem Gewissen“ die Ansprüche eines jeden Kriegführenden klarlegt und gebührend prüft und „unter Beseitigung der ungerechten und unmöglichen Forderungen, und in dem man nötigenfalls durch billige Kompensationen und Abmachungen dem Rechnung trägt, was gerecht und möglich ist“. Es sei unbedingt notwendig, meint der Papst, „dass man von der einen wie von der anderen Seite in einigen Punkten nachgibt, dass man auf einige der erhofften Vorteile verzichtet, und jeder müsste gutwillig in Konzessionen einwilligen, selbst um den Preis gewisser Opfer, um nicht vor Gott und den Menschen die ungeheure Verantwortung für die Fortsetzung dieser beispiellosen Schlächterei auf sich zu nehmen, welche, wenn sie noch weiter andauert. für Europas Wohl das Zeichen eines Herabsinkens von dem hohen Standpunkt seiner Zivilisation und seines Wohlstandes bedeuten dürfte, auf den es die christliche Religion erhob.“
Es ist kaum anzunehmen, dass diese Worte des Oberhaupts der katholischen Kirche ganz ungehört verhallen werden. Ebenso sicher ist aber vorauszusehen, dass keine der kriegführenden Regierungen dadurch auch nur um eines Fingers Breite von dem Wege sich abbringen lassen wird, den sie im Interesse ihrer wirtschaftlichen und politischen Machterweiterung für richtig hält. Hängt ja auch der Fortgang des Krieges zum Wenigsten ab von dem guten Willen der Regierenden, als von jenen gesellschaftlichen Mächten, die in der heutigen Wirtschaftsordnung die Politik der Staaten bestimmen. Bitten, Vorstellungen, religiöse Ermahnungen sind kein Geschichte bildender Faktor. Wirtschaftliche Kräfte, die zum Kriege treiben, können nur mattgesetzt werden durch eine wirtschaftliche Gegenkraft, der der Frieden Lebensbedingung ist.
Diese Gegenkraft sind die Friedensinteressen des Proletariats in allen Ländern. Diese für den Frieden zusammenzufassen und lebendig zu machen ist eine der Hauptaufgaben der sozialistischen Internationale. Nicht nur in Anbetracht der Leiden und Opfer, die der Krieg vom Proletariat fordert, ganz besonders auch im Hinblick auf das Endziel der sozialistischen Arbeiterbewegung: die Befreiung der Arbeit vom Joche des Kapitals, der Aufbau einer neuen Gesellschaft mit planmäßig über die ganze Erde geregelter Güterproduktion und Verteilung zum Nutzen der Allgemeinheit. Seinem ganzen Wesen, seiner Ursache, seinen Zielen nach ist der Sozialismus also der gerade Gegensatz zu den nationalen Schranken, Widersprüchen, Feindschaften, die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unvermeidlich sind, und darum der geborene Vorkämpfer für den internationalen Frieden.
Zu allen übrigen Opfern hin entreißt der Krieg dem Sozialisten gerade den Boden seiner Arbeit. Eine rein nationale Arbeiterbewegung ist von vornherein um die Frucht ihrer Arbeit betrogen, wenn jenseits der Grenzen noch große Massen eines unaufgeklärten, anspruchslosen und demütigen Proletariats existieren. Die billigen Arbeitskräfte in dem einen Lande sind ein Hemmschuh für den proletarischen Aufstieg im anderen Lande, und auch die politische Reaktion findet in der Rückständigkeit der Volksmassen ihren stärksten Hort. Auch andere mögen also im Hinblick auf die Opfer, das wachsende Elend, die steigende Schuldenlast der Staaten – hat doch Weihnachten den: deutschen Volke die kleine Gabe von Ist Milliarden neuer Kriegskredite gebracht! –, die Zerstörung von Menschenleben und Kulturwerten das rasche Ende des Krieges fordern, der Sozialist fordert den Frieden nicht nur um der Gegenwart willen, sondern im Hinblick auf die Zukunft, auf das große Menschheitsziel seiner Klasse. Erst das gibt unserer Friedensarbeit die glühende Begeisterung und Fähigkeit aufopfernder Hingabe.
Von unten auf, wie bei allen großen Kulturbewegungen, muss auch in der Sozialdemokratie die Wiederbelebung der Internationale kommen. Der dumpfe Instinkt schon sagt es den Massen, dass nur in ihr eine dauernde Garantie zukünftigen Friedens liegen kann. Gerade dieser Krieg hat gezeigt, wie in der kapitalistischen Gesellschaft auch der ehrlichste Friedenswille einzelner Regierungen das Unheil nicht abzuwenden vermochte. Wir brauchen stärkere Dämme als die Klugheit der Diplomaten und den guten Willen der Politiker. Nur eine sozialistische Wirtschaftsordnung kann diesen Damm bilden. Darum gibt es keine proletarische Friedensarbeit, die nicht zugleich sozialistische Propaganda sein muss, darum ist unser Friedenswille von vornherein zur Ohnmacht verdammt, wenn er nicht gleichzeitig die proletarische Internationale wieder aufrichtet.
Von diesem Standpunkt aus muss auch die Interpellation der sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Reichstag beurteilt werden, die den Reichskanzler um Mitteilung der Kriegsziele anging. Die offizielle Bekanntgabe der Kriegsziele wäre gewiss ein bedeutender Schritt vorwärts. Auf ihrer Grundlage lassen sich direkt und indirekt jene Verhandlungen einleiten, von denen der Papst sprach. Ein ehrliches Aussprechen dessen, was man will, könnte viel Hass und Misstrauen zerstreuen, die jetzt der Anbahnung einer freundlichen Auseinandersetzung noch im Wege stehen. Andererseits liegt die Frage auf der Hand, ob eine sozialdemokratische Fraktion, die bisher noch gar nichts getan, um die internationale Solidarität der Arbeiter wieder anzubahnen und dadurch der Friedensbewegung, daheim wie im Ausland, die starke Grundlage zu geben, ob diese Fraktion eigentlich erwarten konnte, dass die Regierung ihr anders als mit einigen sorgfältig gewählten und allgemein gehaltenen Ausführungen antworte. Der einzige Fortschritt seit der Maisitzung des Reichstags besteht darin, dass der Kanzler sein Wort von den „realen Garantien“ durch das Wort von den „Ausfalltoren“, die man den Gegnern nicht lassen dürfte, erläuterte. Und wie im Mai hat auch diesmal die Fraktion anders als die bürgerlichen Parteien das Kanzlerwort in ihrem Sinne ausgelegt, Eroberungspolitik abgelehnt, sich aber doch mit einer militärischen Korrektur der Grenze indirekt einverstanden erklärt. Von den bürgerlichen Pressestimmen zur Kanzlerrede ist ein Wort des „Berliner Tageblatts“ der Aufmerksamkeit wert, das der Meinung ist, unter gewissen Voraussetzungen könne man sich bis zum Ende der Welt immer wieder vor einem Ausfallstor sehen. Dem Frieden näher gebracht hat die Völker weder die sozialdemokratische Interpellation noch die Antwort des Kanzlers. Es kommt eben nicht nur darauf an, dass vom Frieden geredet wird, sondern dass ihm zugleich die Wege geebnet werden.
In der neulichen Tagung des Zentralausschusses der Freisinnigen Volkspartei meinte Herr Payer, nicht einen irgend beliebigen Frieden wünsche das deutsche Volk, sondern einen, „wie wir ihn brauchen„. Wir schmeicheln uns nicht, mit Herrn Payer über den Inhalt des gewünschten Friedens einer Meinung zu sein, seine Worte aber wollen wir in unserem Sinne beherzigen. Wir Proletarier können nur einen Frieden brauchen, der die Bedingungen des proletarischen Befreiungskampfes nicht erschwert und nicht schon den Keim zu neuem Zwiespalt und neuem Blutvergießen im Schoße trägt. Friede auf Erden! – lautet der christliche Weihnachtstext. Aber wir Proletarier wissen, dass dauernder Friede nur zu gewinnen ist durch den unbeugsamen, tapferen Kampf für den internationalen Sozialismus.
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