Die Bedeutung der Zimmerwalder Konferenz für den Wiederaufbau einer sozialistischen Internationale kann nicht geleugnet werden. Der lebhafte Widerhall, den die Tagung bei Freund und Feind erweckte, ist der beste Beweis dafür. Die Konferenz ist ein Markstein, an dem sich die Geister scheiden, und das wirkt klärend und belebend. Auf die Einzelheiten der Zusammensetzung und der gefassten Beschlüsse kommt es hierbei weniger an, als auf die Tatsache, dass die Konferenz überhaupt stattfand, und dass mitten im Krieg, in dem Zusammenprall der Leidenschaften und der Atmosphäre des Misstrauens die Fahne proletarischer Solidarität und Einheit aufgerichtet wurde. Das internationale Klassenbewusstsein des durch den Krieg zerrissenen europäischen Proletariats beginnt aus tiefer Ohnmacht zu erwachen, und die Konferenz war eine seiner ersten Lebensäußerungen.
Dass die Zusammenkunft ohne, ja gegen den Willen offizieller Parteivertretungen in manchen Ländern stattfinden musste, ist nicht ein Beweis ihrer „Bedeutungslosigkeit“, sondern im Gegenteil ein Zeichen, wie urwüchsig und lebhaft der Drang zu internationaler Verständigung und gemeinsamem Handeln sich überall durchsetzt. Der Geist siegt über das Phlegma, der Inhalt über die Form, der Sozialismus über die Parteibürokratie. Das ist ein Anzeichen des eingetretenen Heilungsprozesses. Demgemäß wäre jetzt die Aufgabe der offiziellen Parteiführer und Instanzen ohne Zweifel diese: die in der Konferenz zum Ausdruck gekommene sozialistische Tatbereitschaft freudig zu begrüßen, mit allen Mitteln zu fördern und sich mitsamt ihren Organisationen auf den vorbereiteten Boden zu begeben. Die Form muss sich dem Geiste anpassen, nicht der Geist der Form. Und wer kann der Konferenz vorwerfen, sie habe nicht sozialistischen Geist geatmet?
In diesem Sinne hat denn auch der italienische Parteivorstand sofort und rückhaltlos gehandelt. Von ihm, der das Banner des internationalen Sozialismus nicht eine Minute sinken ließ, von ihm, dem geistigen Vater der Konferenz, war es nicht anders zu erwarten. Das offizielle Parteiorgan der italienischen Sozialdemokratie, der „Avanti“, hatte nur die Zensurschwierigkeiten der Behörden, nicht die „innere Zensur“ so mancher anderen Parteizeitungen zu überwinden, um das Zimmerwalder Manifest zu veröffentlichen. Der italienische Parteivorstand selbst „begrüßt lebhaft das Wiedererwachen der internationalen Bewegung“. Er verspricht den Zimmerwalder Beschlüssen seine volle Unterstützung und will seine eigene Haltung und die der Partei mit den Schlussfolgerungen des Manifestes in Übereinstimmung bringen.
In England hat die Unabhängige Arbeiterpartei und die Mehrheit der British Sozialist Party dem Zimmerwalder Manifest ausdrücklich zugestimmt, obwohl oder gerade weil ihren Delegierten die englische Regierung die Beteiligung unmöglich gemacht hatte. Die Sozialdemokratie in Portugal und in Griechenland hat sich für die Konferenz erklärt.
Die russische Sozialdemokratie war bekanntlich auf der Konferenz offiziell vertreten, und zwar durch Delegierte beider Richtungen. Trotzdem die Vertreter der im Zentralkomitee zusammengefassten bolschewikischen Partei schärfere, sozialrevolutionärere Aktionen wünschte, ist sie dennoch auf der Konferenz dem Manifest einmütig beigetreten, um den Genesungsprozess der Internationale nicht zu stören. Die vom Organisationskomitee der russischen Sozialdemokratie herausgegebene Zeitschrift „Internationale und Krieg“ hat sich in längeren Ausführungen mit der Zimmerwalder Konferenz beschäftigt und nennt sie „den nächsten Schritt auf dem Wege zur Wiedergeburt der zerfallenen Internationale“. Die Tagung werde orientierend auf die Arbeitermassen aller Länder wirken. Nicht eine Spaltung der Internationale bedeute die Konferenz, sondern im Gegenteil, sie sei der erste Versuch zur Überwindung der Spaltung. Diese habe in den einzelnen Ländern mit der Bewilligung der Kriegskredite in den Parlamenten begonnen und wurde weitergeführt durch die ganze Politik des nationalen Blocks. Obwohl die russische Sozialdemokratie nur durch ihre ausländischen Sekretariate vertreten sein konnte, so besteht doch völlige Einigkeit in dieser Sache zwischen den inländischen und den auswärtigen Instanzen.
Anders verhält sich der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie zur Konferenz. Er hat wiederholt, was er gegen die Vorläuferin und Wegweiserin der Zusammenkunft ausgespielt hat: gegen die Internationale Sozialistische Frauenkonferenz. Am 2. Oktober hat er einen Ukas, Verzeihung, ein vertrauliches Rundschreiben an die Organisationen und die Parteipresse erlassen, das vor der Konferenz warnt. Er, der selber in seinem sogenannten Friedensmanifest mit Vorwürfen gegen die ausländischen Bruderorganisationen wahrhaftig nicht gespart hatte, vermeint es beklagen zu müssen, dass die Teilnehmer der Konferenz glaubten, „den Interessen des Proletariats dadurch zu dienen, dass sie in einem wortreichen Manifest zunächst allerlei Vorwürfe gegen die Parteiorganisationen der verschiedenen Länder erhoben“. Aus der Tatsache, dass soundso viel Parteien nicht offiziell vertreten waren, ergibt sich für ihn „die Bedeutungslosigkeit der Konferenz“. Immer wieder macht er geltend, dass „die berufenen Vertreter“ der sozialdemokratischen Partei Deutschlands alles getan haben und weiter tun werden, um einen baldigen Frieden herbeizuführen. Die gesamte deutsche Partei sei einig in ihrem Friedenswillen. Der Parteivorstand sagt damit nichts anderes, als was jeder human denkende Bürgerliche auch sagen kann. Ganz ehrlich schränkt er seinen Friedenswillen und seine Friedensbemühungen zuletzt im Sinne der Regierung mit dem Satze ein, „soweit das dieKriegsverhältnisse zulassen„. Er verzichtet also nach wie vor auf jede selbständige sozialistische Politik. Die Tatsache aber, dass die schwankende Gestalt des Parteivorstandes die ganze erschütterte Autorität gegen die Konferenz aufbieten zu müssen glaubt, beweist allein schon die Bedeutung der Zimmerwalder Tagung.
In Frankreich hat die offizielle Parteihierarchie einen geschickteren Weg gewählt, um der unangenehmen Konferenz die Wichtigkeit abzusprechen. Weg dekretieren lässt sich diese nicht, also schweigt man darüber. Allein auch in Frankreich ist der Geist mächtiger als das Trägheitsvermögen und die Form. Die Opposition, von der die französische Parteileitung neulich behauptete, sie bestehe gar nicht, erhebt ihr Haupt kühner und zielklarer als zuvor. Die sozialistische Föderation von Haute Vienne hat der Konferenz ganz offiziell ihre Zustimmung erklärt und der in Bern eingesetzten internationalen sozialistischen Kommission bereits einen Beitrag bewilligt. Einen ähnlichen Beschluss fasste die Sektion Limoges.
In der Schweiz hat die Konferenz zu einem harten Zusammenstoß innerhalb der Parteileitung selbst geführt. Die Mehrheit hat in einer langen gewundenen Erklärung sachlich der Konferenz recht gegeben, jedoch die Verantwortung für sie abgelehnt. Die schweizerische Partei „als solche“ könne sich nicht einer „Internationale aus Parteiteilen“ anschließen. Die Minderheit in der Parteileitung hat eine energische Gegenerklärung gegen diese Logik des Formalismus veröffentlicht. Die Erklärung der Mehrheit sei nichts anderes als eine Missbilligung der Zimmerwalder Konferenz. Es kann in diesem Augenblick nicht auf eine formelle Wiederanknüpfung der Internationale ankommen, sondern auf die ideelle Gemeinschaft und die Zusicherung der Bereitschaft zu gleichzeitigem Handeln im Falle der größten Gefahr. Die große Masse der schweizerischen Parteigenossen kennt die bürokratischen Bedenken der Geschäftsleitung nicht. In mehr als 70 Versammlungen wurde am 3. Oktober eine Resolution angenommen, in der den Genossen, die in den kriegführenden Ländern in Opposition stehen, Dank und Sympathie ausgesprochen wird, weil diese Kämpfer die Ehre der proletarischen Internationale hochhielten. Eine Delegiertenversammlung in Bern hat einmütig ihre Zustimmung zum Zimmerwalder Manifest erteilt und bedauert, dass die schweizerische sozialdemokratische Partei nicht offiziell vertreten war. In Zürich hat eine Mitgliederversammlung der sozialdemokratischen Organisation trotz energischen Widerspruchs der opponierenden Geschäftsleiter mit 229 Stimmen gegen nur 44 einen Beschluss gefasst, der die Konferenz begrüßt, „weil sie der Ansicht ist, dass dieses Vorgehen den Wünschen des gesamten Proletariats entspricht“. Die Versammlung hält die Zusammenkunft für einen Anlauf zur Wiedererstehung der sozialdemokratischen Internationale. Ebenso haben die Gewerkschaften in Zürich dem Manifest zugestimmt. Auch der Parteitag des Kantons Neuenburg hat sich den Beschlüssen von Zimmerwald angeschlossen und die Gesamtpartei aufgefordert, dasselbe zu tun. Eine Vorstände- und Delegiertenversammlung in Basel begrüßt „diesen ersten gelungenen Schritt“ zur Wiederaufnahme der internationalen Beziehungen. Sie erwartet, dass die Arbeiterschaft und ihre Organisationen im Sinne des Manifestes handeln und die eingesetzte Kommission bei ihren Aufgaben unterstützen. Zustimmungserklärungen sind ferner eingegangen aus Vevey, aus Schlieren, Neumühle, Mattenhof-Bern und anderen.
Gegen die Konferenz eifert der dänische Parteivorstand. Die drei skandinavischen Länder waren ja nur durch ihre Jugendorganisation vertreten. Der Parteivorstand betont nun, dass er „unter keinen Umständen“ sich durch die „sogenannte“ internationale Kommission vertreten lassen könne. Ebenso wenig fühle er sich durch die Beschlüsse dieser Kommission gebunden. Er protestiert „gegen diesen Eingriff in die Organisationsverhältnisse der internationalen Sozialdemokratie“ und dagegen, dass, wie er meint, „einzelne Personen sich als Leiter der internationalen Sozialdemokratie aufspielen“. Der dänische Parteivorstand hat bei seiner Resolution nur vergessen, dass er selber schon Konferenzen gebilligt hat oder an ihnen beteiligt war, die über die normalen Organisationsverhältnisse hinausgriffen. So die Luganeser Konferenz und die Internationale Konferenz im Januar dieses Jahres zu Kopenhagen.
Allein all diese Einwände tun nichts zur Sache. Wir hören aus ihnen wieder das alte Lied: Nur der Priester darf die heilige Handlung vollziehen, und die Handlung ist nur heilig, wenn der Priester sie vollzogen hat. Die Schale will wieder einmal mehr sein als der Kern, weil dieser lebendige Keime treibt. Sie selbst hat ihre Elastizität verloren und empfindet nun peinlich, dass der Kern sich dehnt. Er soll sich innerhalb der starren, unfruchtbaren Schale halten. Was an der Zimmerwalder Konferenz zu kritisieren wäre, das ist aber wahrlich nicht der Mangel an Respekt vor den offiziellen Parteien, Autoritäten und Instanzen, ist nicht die fehlende gläubige Unterwerfung unter ihre Ansichten und Gebote. Das ist vielmehr eine gewisse Zaghaftigkeit, mit der die Beschlüsse sich innerhalb der Grenze gehalten haben, die sich die recht schwächliche Opposition der parlamentarischen Fraktionsminderheit der deutschen und der französischen Sozialdemokratie gesteckt hat, jene Opposition, die zwar „aus Grundsatz“ gegen den Imperialismus eine Faust ballt, jedoch „aus Disziplin“ diese Faust im Parlament hübsch bescheiden in der Tasche hält. Die Konferenz hat sich daran genügen lassen, in ihren Verhandlungen zum Ausdruck zu bringen, dass sie in ihrer sehr großen Mehrheit diese Art der Opposition für unzulänglich hält, und dass ihr in den betreffenden Ländern selbst wachsender Widerspruch aus Reih und Glied der Partei entgegenschallt. Sie sah aber davon ab, die gleiche Warnungstafel, die sie nach links dort anschlug, wo die Strudel der bolschewikischen Sektiererei ihre Wirbel ziehen, auch nach rechts da zu errichten. wo die gleitenden Grenzen zwischen Opposition und Sumpf liegen. Die Konferenz hielt es für klüger, nicht durch formell bindende Abstimmung zu einem Zwang zu erheben, was unter Umständen die Elemente zersprengt hätte, die es international zusammenzufassen galt. Sie überließ es der Logik der Tatsachen, die nötigen praktischen Schlussfolgerungen herbeizuführen. Politische Kämpfer müssen zu warten verstehen gemäß dem Bibelwort: „Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“ Die Zimmerwalder Konferenz hat mit Erfolg an der ihr zugefallenen Tagesaufgabe gewirkt, die gegen den nationalen Block und den Burgfrieden opponierenden Parteiteile international zu sammeln und dadurch den Wiederausbau der proletarischen Internationale vorzubereiten. Führende und namentlich die Geführten müssen zusammenwirken, damit es in der eingeschlagenen Richtung vorwärtsgeht.
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