[Nr. 839, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 37, 3. September 1887, S. 7 f.]
Aus Norddeutschland, 30. August. Die Frage, deren Lösung im gegenwärtigen Augenblick weite Kreise der Bevölkerung allgemein interessiert und die Arbeiterklasse besonders nahe angeht, ist die Frage: Wird das von einer Anzahl Großkapitalisten im Verein mit Großbranntweinbrennern geplante Privatmonopol für Branntwein mit dem 1. Oktober zustande kommen oder nicht?
Die Sachlage ist kurz folgende: Der im Februar gewählte regierungsergebene Reichstag, dessen erste Bewilligung eine bedeutende Verstärkung der stehenden Armee war, musste hierzu auch die nötigen finanziellen Mittel bewilligen. Die Beschaffung derselben machte ihm feine Skrupel, denn wer kann besser und ausgiebiger Steuer zahlen als die arbeitende Klasse, und was eignet sich besser zur Besteuerung als eins ihrer „Luxusbedürfnisse“ – um mit dem Fürsten Bismarck zu reden – der Branntwein. Der Branntwein war zwar schon besteuert, aber nach Ansicht der bayrisch Bier und teure Weine konsumierenden Gesetzgeber des heiligen Deutschen Reichs viel zu niedrig. Auch hatte nach Ansicht dieser Gesetzgeber die Zollpolitik des Deutschen Reichs mit ihrer Verteuerung der notwendigsten Lebensbedürfnisse der unteren Volksklassen die Löhne dieser selben Klassen so bedeutend verbessert, das sie einen ordentlichen Aderlass recht gut vertragen konnten. Besteuere man also den Branntwein her, aber besteuere man ihn so, das die armen Schnapsbrenner „in den Ostprovinzen, die hunderttausend Markmänner und die Millionäre keinen schaden dabei leiden. Es wurde also beschlossen, außer der Maischraumsteuer von 16 Mark pro Hektoliter reinen Alkohols eine Konsumsteuer von 50 Mark zuzuschlagen, welche von „einem Durchschnittskonsum von 4½ Liter per Kopf der Bevölkerung zu zahlen seien. Der Konsum, der über 4½ Liter Durchschnitt sich herausstellt, soll mit 70 Mark per Hektoliter besteuert werden. Sachverständige berechneten, dass, da der Konsum bisher wesentlich mehr als 4½ Liter reinen Alkohols per Kopf und per Jahr betragen habe, anzunehmen sei, das selbst unter Einrechnung einer erheblichen Konsumeinschränkung dieser Satz auch jetzt noch überschritten werde und dadurch der Preis des gesamten Spiritus auf Höhe des 70 Mark Steuersatzes gehalten werde, wodurch ungefähr 600 [?] Branntweinbrennern im Reich ein jährlicher externer Gewinn von 30-34 Millionen Mark in die Taschen gespielt werde.
Dieser von Reichswegen unsern „notleidenden“ Schnapsbrennern in Aussicht gestellte Gewinn – unter diese notleidenden Brenner zählt in unsern Ostprovinzen der gesamte großgrundbesitzende Adel, Fürst Bismarck an der Spitze. Auch unsere Bankiers schlafen nicht, sie kamen auf den sublimen Gedanken, die gesamte Spiritusproduktion im Einverständnis mit den Brennern zu monopolisieren, so das sie den Preis des Branntweines diktieren könnten. Unter Führung verschiedener Banken trat ein Konsortium zur „Gründung einer Aktiengesellschaft für Spiritusverwertung zusammen, welches sich anheischig machte, den Brennern vom 1. Oktober dieses „ Jahres ab für den Hektoliter statt 34 Mark, die der Spiritus bis „ zu diesem Frühjahr kostete, 70 Mark zu zahlen, so weit derselbe mit 50 Mark Steuer, und 50 Mark, so weit derselbe mit 70 Mark Steuer nach dem Gesetz zu belasten sei. Der Hektoliter Alkohol wurde damit auf 120 Mark normiert Da nun aber die Gesellschaft nicht umsonst arbeiten will, andererseits genötigt ist, den nach dem Ausland gehenden Spiritus weit unter dem von ihr selbst gezahlten Preis loszuschlagen denn eine Produktionseinschränkung über das gesetzlich angenommene Minimalmaß wollen sich die Brenner selbstverständlich nicht gefallen lassen – so auch sei der Hektoliter für den Inlandskonsum um mindestens weitere 10 Mark zu erhöhen, so dass dieser sich auf 130 Mark stellt. Der Branntwein erlitte also dadurch vom 1. Oktober ab eine Preissteigerung um das Vierfache, eine Steigerung, die dem Reich, den Brennern und dem Großkapital in verschiedenen Anteilen zugute käme. Die Furcht, das eine solche kolossale Preissteigerung des Branntweins den Konsum in unerwartetem Maße einschränken möchte, das ferner die Brenner damit ganz und gar in die Hände der Gesellschaft geliefert würden und die Besorgnis der Restaurateure, wie namentlich der Spiritushändler, schwer geschäftlich geschädigt, wo möglich ruiniert zu werden, hat eine lebhafte Reaktion bei einem Teil dieser Interessenten hervorgerufen und hat sie veranlasst, mit Gegenprojekten ins Feld zu rücken Wie der Kampf ausgehen wird, lässt sich heute nicht voraussagen. Welches Kapitalistenlager immer den Sieg davon trägt, das arbeitende Volk, das durch seine traurigen Erwerbsverhältnisse auf den Genuss des Branntweins angewiesen ist, wird die Zeche zu bezahlen haben, in dem einen Falle etwas höher, in dem andern etwas niedriger. Die mindestens dreifache Verteuerung oder entsprechende Verschlechterung eines bei harter Arbeit und geringer Nahrung notwendigen Stimulierungsmittels ist ihm sicher.
Der ganze Vorgang trägt aber gewaltig zur politischen Aufklärung bei, er zeigt dem Arbeiter handgreiflich, welche Art Freunde die als „Sozialreformer“ sich aufspielenden Junker, Pfaffen und Bourgeois ihm sind, und das ist ein großer Gewinn, den die Sozialdemokratie einstreicht.
Die sächsischen Sozialdemokraten haben jetzt ihr Programm für die Landtagswahlen, für die ein Termin noch immer nicht angesetzt ist, veröffentlicht. Dieses Programm lautet:
1. Einführung des allgemeinen gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für den Landtag und die Gemeindewahlen; 2. Aufstellung von Garantien für eine vollständige Vereins- und Versammlungsfreiheit durch entsprechende Revision des Vereinsgesetzes; 3. Einführung einer einzigen progressiven Einkommensteuer in Staat und Gemeinde; 4. Übernahme des Armenwesens durch den Staat; 5. Gewährung unentgeltlichen Schulunterrichts und Übertragung aller Schullasten auf den Staat; 6. Aufhebung der „vorsintflutlichen“ Gesindeordnung vom Jahre 1835, sowie ferner Revision des Polizeiwesens; Aufhebung drückender Polizei- und Ministerialverordnungen; Reform der Gesetze über Verkehrsmittel; Gewissensfreiheit; Änderung der Parochialgesetze zugunsten der kleineren Gemeinden und endlich Regelung des Ärzte- und Apothekenwesens.
Die letzteren Forderungen sind namentlich wichtig in Rücksicht auf die in den letzten Jahren im Reich eingeführten Kranken- und Unfallversicherungsgesetze für die gesamten gewerblichen und landwirtschaftlichen Arbeiter. Ärzte wie Apotheker haben sich in Folge davon zu Koalitionen vereinigt und ihre Forderungen an diese Kassen normiert, namentlich haben die Apotheker sich geeinigt, den früher den Kassen gewährten Rabatt nicht mehr zu gewähren, wodurch die Apotheker-Rechnungen der Kassen gewaltig gewachsen sind. Die Ärzte und Apothekerfrage wird endgültig nur durch das Reich gelöst werden können.
Hinsichtlich der Ärzte handelt es sich namentlich darum, Mittel ausfindig zu machen, welche der Ärztenot auf dem Lande Einhalt gebieten. Das wird ohne staatliche Subvention oder Verstaatlichung des Ärztewesens nicht möglich sein. Bezahlt der Staat die sogenannten Seelen-Ärzte, die Geistlichen, in reichlichem Maße, so hat er die noch weit höhere Verpflichtung für die physische Gesundheit der Massen zu sorgen. Für die Arbeiter auf dem Lande ist aber die Hilfe eines Arztes heute eine unerschwingliche Last.
Endlich ist der deutschen Polizei ein schwerer, schwerer Alp von der Brust genommen. seit Wochen befand sie sich in der größten Aufregung und beobachtete alle bekannten Sozialisten aufs Schärfste, um herauszubringen, ob nicht irgendwo ein „Geheimer Kongress“ stattfinde, von dem die Presse seit einiger Zeit allerlei munkelte. Nun ist das Geheimnis und wohl in einer für die Polizei wie die gesamte Gegnerschaft höchst überraschenden Weise gelöst. statt eines „geheimen“ in aller Stille in irgendeinem Winkel Europas liegenden Kongress kündigt die sozialdemokratische Reichstagsfraktion – und zwar sind sowohl die Mitglieder der gegenwärtigen wie die der früheren Fraktion und die sozial demokratischen Mitglieder der Landtage, soweit nicht Gefängnis und schwebende Prozesse sie zu unterzeichnen verhinderten – öffentlich durch die gesamte Presse die Abhaltung eines Parteitages in diesem Herbst an.*)
Mit dieser öffentlichen Einladung und Ankündigung der Tagesordnung mit ihren Referenten ist von vornherein jeder Versuch der Polizei oder der Staatsanwaltschaften, den Parteitag als „Geheimbündelei“ unter Anklage zu stellen, der Boden entzogen. Auch das die Einberufer offen und frei ankündigen, das der Parteitag in Rücksicht auf das Sozialistengesetz und seine Handhabung, trotzdem die Tagesordnung desselben in keinem Widerspruch mit dem gemeinen Rechte in Deutschland stehe, im Ausland stattfinden werde und müsse, ist eine schwere moralische Ohrfeige für das herrschende System. Man darf sehr gespannt sein auf die Kommentare, welche das Vorgehen der sozial-demokratischen Führer in der Presse der verschiedenen Parteien finden wird, sobald derselben der Wortlaut der Einladung vorliegt. Vielleicht haben wir Veranlassung noch darauf zurückzukommen.
In Altona ist Freitag und Samstag der große Sozialistenprozess zu Ende geführt worden, in dem eine Anzahl Hamburger Altonaer Sozialisten verwickelt waren, und in dem, wie seinerzeit die offiziöse Presse, großmäulig wie immer, ankündigte, endlich die Fäden der geheimen Organisation über ganz Deutschland gefunden seien. Der Prozess hat nicht die geringsten Beweise für diese großsprecherischen Behauptungen erbracht und konnte sie nicht erbringen, da eine solche Geheimorganisation über ganz Deutschland nur in dem Hirn gewisser Polizeimenschen existiert, die sich eine verfolgte und unterdrückte Partei ohne geheime Verschwörung nicht vorstellen können.
Dabei gediehe nur der Weizen dieser Herren, Massen lassen sich nicht in geheimer Verbindung organisieren, wer das glaubt, ist ein politisches Kind. Das Urteil, dass heute gesprochen wird, wird der Telegraf Ihnen bereits gemeldet haben. Das die Staatsanwaltschaft gegen einige der am schwersten Angeklagten im Maximum nur ein Jahr Gefängnis beantragte, zeigt schon, das der Prozess bei weitem jene Bedeutung nicht hatte, die man ihm seinerzeit zulegte.
Am 1. Oktober sollen sich auch die sozialdemokratischen Reichstags-Abgeordneten Grillenberger und Singer vor dem Stuttgarter Schöffengericht verantworten. Beide wohnten im vorigen Monat einer gemütlichen Zusammenkunft ihrer Genossen in einem Stuttgarter Gartenlokal bei, wobei Reden gehalten und Toaste ausgebracht wurden. Die Polizei löste diese Zusammenkunft als eine „Versammlung“‘ auf und forderte die Anwesenden auf, das Lokal – einen öffentlichen Garten – zu verlassen. Die Genannten sollen im Verein mit Anderen dieser Aufforderung nicht nachgekommen sein und so sind sie auf § 17 des Soz.-G. unter Anklage gestellt, das für ein solches Vorgehen bis 500 M. Geldbuße oder bis zu 3 Monaten Gefängnis androht.
Ähnliche Prozesse finden im Deutschen Reich bald hier bald dort fast allwöchentlich statt, ohne das sie die „öffentliche Meinung“ oder die Beteiligten besonders aufregen, sie gehören bei uns im „Reich“ zum täglichen Brot, nur betet man nicht darum, sie stellen sich unerbetet ein.
*) Wir bringen die Einladung an anderer Stelle. D. Red.
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