[aus der Broschüre „Charakterköpfe aus der französischen Arbeiterbewegung“, S. 5-20]
Zu den Männern, deren Name für immer unauflöslich mit der Geschichte des modernen Sozialismus in Frankreich verknüpft ist, gehört in erster und hervorragendster Weise Jules Guesde.
Zu einer Zeit, als der Versailler Schrecken die französische Arbeiterschaft noch in so dumpfer Betäubung darnieder hielt, dass sich kaum eine ebenso farblose als unklare Gewerkschaftsbewegung zeigte, als das totgeborene Kind des Genossenschaftswesens und des Mutualismus als Gespenst herumspukte und nur schüchterne bürgerlich-radikale Bestrebungen und utopistische Schrullen die Bewegung beherrschten, da war Jules Guesde der Erste, welcher aus dem Blute der Föderierten das Banner einer sozialistischen Proletariatsbewegung aufhob und im Namen des Prinzips vom Massenkampf die Enterbten zu neuem gemeinsamem Vorgehen gegen die alte Gesellschaft zusammenrief.
Sein Eingreifen in die französische Arbeiterbewegung ist gleichbedeutend mit deren Einlenken in den Strom des modernen, wissenschaftlichen Sozialismus. Es gibt keine Etappe aus der Jugendzeit der sozialistischen Arbeiterbewegung Frankreichs nach dem Unterliegen der Kommune, die nicht durch das Wirken Guesdes charakterisiert, die nicht mit seinem Einfluss in Verbindung zu bringen wäre. Andere treffliche Kämpen sind neben und mit ihm in die Schlachtreihen des um seine Emanzipation ringenden Proletariat getreten, haben nach ihren Kräften für die theoretische Erziehung ober für die Organisierung der Arbeiterschaft gewirkt, sie haben viel, sehr viel, vielleicht alles getan, was in ihrer Möglichkeit stand — mehr als Guesde hat jedoch keiner von ihnen gewirkt.
Seit Anbeginn seiner propagandistischen Tätigkeit hat er mit gleich schonungsloser Kritik die flache Gewerkschaftssimpelei, die wüste Anarchisterei und den verschwommenen Utopismus überlebter sozialer Schulen bekämpft.
Er war der erste, welcher in einer Zeitung ein klares sozialistisches Programm formulierte, auf seine Tätigkeit ist es zurückzuführen, dass der Sozialismus verhältnismäßig rasch unter den neu erstandenen Gewerkschaften Anhang fand und schon auf dem Kongress zu Lyon offiziell auftrat; sein Werk ist das Erscheinen der ersten rein sozialistischen Zeitung, seiner Agitation ist der Sieg des Sozialismus über den Barbaretismus (auf dem Kongress zu Marseille) zu verdanken, damit die Bildung einer wirklich sozialistischen Arbeiterpartei, die allerdings bald wieder in zwei Flügel zerfiel; und an dem, durch seine klare, knappe Fassung sowie prinzipielle Korrektheit mustergültigen Programm der französischen Partei hat er tätigsten Anteil genommen. Von der Erkenntnis geleitet, dass das Proletariat der Großindustrie und nicht das auf den Aussterbeetat gesetzte Kleinbürgertum der berufene Träger des modernen Sozialismus sei, erwarb sich Guesde das Verdienst, zuerst eine systematische und zielbewusste sozialistische Agitation unter den Arbeitern der Provinz, zumal der großen Industriezentren entfaltet zu haben. Mit Lafargue und Deville zusammen hat er den Teil der sozialistischen Literatur Frankreichs geschaffen, welcher von bleibendem agitatorischem und erzieherischem Wert für die Klärung und Schulung des Proletariats ist.
Guesde zählte zu dem kleinen Häuflein derer, welche von Anfang an den internationalen Charakter einer zielbewussten Arbeiterbewegung betonten und stete innige Fühlung mit den Bruderparteien des Auslandes zu halten suchten. Die französische Arbeiterbewegung ist ihm ebenso wohl für ihre Ausbreitung und ihr Wachstum als auch für ihre Klärung und Vertiefung zu Danke verpflichtet. Sein ganzes Bestreben ist darauf gerichtet gewesen, ihr einen klaren und bestimmten sozialistischen Inhalt zu geben, der im Einklang mit den Ergebnissen der Sozialwissenschaften steht und sich vom hohlen revolutionären Phrasentum ebenso weit entfernt hält, wie von einer kompromisssüchtigen Verwässerung des sozialistischen Programms. Unbekümmert darum, durch Anpassung an die Unklarheit, die Vorurteile, die niedrige Entwicklung der landläufigen Ideen billige Eintagserfolge einzuheimsen, wie dieselben mittelmäßigen und ehrgeizigen Geistern schmeicheln, hat er für seine Haltung nur eine Richtschnur gekannt: das Programm der sozialistischen Partei, das er überall und stets hochzuhalten bestrebt war. Seine Gegner warfen ihm dafür vielfach eine untaktische Starrheit der Prinzipien, einen unpraktischen Doktrinarismus vor, wir können in seiner Haltungslinie nur zielbewusste Konsequenz finden. Die Masse wird nicht dadurch erzogen, dass man sich ihren Vorurteilen und Schwächen anpasst, sondern dadurch, dass man dieselben bekämpft.
Mit seltener Uneigennützigkeit hat Guesde ein ungewöhnlich reiches, vielseitiges und durchaus originales Talent in den Dienst des Proletariats gestellt, alle die Vorteile verschmähend, welche ihm der Verrat in sichere Aussicht gestellt hätte. Die Bourgeoisie hätte einen Mann seiner Begabung, seines Schlages gern mit Gold abgewogen und kann es Guesde nicht verzeihen, dass er nicht feil ist. Wenn jemand, so zählt er zu den bestgehassten Revolutionären Frankreichs. Wenn infolge der unter der französischen Arbeiterschaft noch zäh haftenden Unklarheit, des Klebens an alten Traditionen und Schulen teilweise auch infolge von Verleumdung und Intrigen Guesdes aufopferndes und rastloses Wirken noch nicht alle die Früchte gezeitigt hat, welche man erwarten durfte, wenn er persönlich, statt Anerkennung und Unterstützung vielfach Verketzerungen und in den Weg geworfenen Knüppeln begegnet ist, so wird sein Verdienst um die Sache des Sozialismus dadurch um nichts geschmälert. Trotz aller prinzipiellen und persönlichen Gegnerschaft ist sein Einfluss direkt ober indirekt herrschend geblieben und zeigt sich sogar innerhalb der feindlichen Bruderfraktion. In dem Maße, wie sich die Verhältnisse entwickeln und dem Proletariat den Star über seine Interessen und über die Sachlage stechen, in dem Maße gelangen auch allmählich die von Guesde vertretenen Ideen zur Geltung.
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Jules Guesde (der Name ist übrigens ein Pseudonym) ist am 11. November 1845 in dem ältesten Stadtteile von Paris, der Ile St.-Louis geboren.
Seine Gestalt bildet eines jener Beispiele, wo sich die Entwicklung eines Individuums in vollständigem Gegensatz zu der umgebenden Mitte zu vollziehen scheint. Guesde entstammt nämlich einer Familie von strenggläubigen Katholiken, welche ohne jede politische Überzeugung waren. Sein Vater war ein sogenannter „professeur libre“, d. h. ein Privatlehrer, welcher junge Leute für das Baccalaureat und den Eintritt in Hoch- und Fachschulen vorbereitete. Der Knabe, welcher nie eine öffentliche ober Privatschule besuchte, und vom Vater unterrichtet ward, offenbarte frühzeitig ungewöhnliche Fähigkeiten. Kaum vierzehn Jahr alt, war er im Studium der klassischen Sprachen und der Mathematik so weit vorgeschritten, dass er wie der Vater die Vorbereitung von jungen Leuten für ihre Examina übernahm. Noch ehe er das sechzehnte Jahr erreicht hatte, bestand er das Baccalaureat, er hatte wegen seiner großen Jugend einer besonderen Erlaubnis bedurft, um zu den betreffenden Prüfungen zugelassen zu werden.
Durch die Verhältnisse im väterlichen Hause auf einen Broterwerb angewiesen, trat er in eine Administration ein, in welcher er es jedoch in Folge seines feurigen Temperaments und seiner republikanischen Überzeugungen, welche nach Betätigung verlangten, nicht lange aushielt. Denn trotz der frommen, stillen Mitte, in welcher Guesde erwachsen war, hatten sich bei ihm bereits seit den Knabenjahren entschieden republikanische und zwar rot-republikanische Überzeugungen herausgebildet, zu denen die verstohlene Lektüre der „Châtiments“ von Victor Hugo den Anstoß gegeben. So warf sich der zwanzigjährige Guesde dem Journalismus in die Arme, und zwar seinem ganzen Naturell nach dem kämpfenden, politischen, oppositionellen Journalismus, welcher dem zweiten Empire den Fehdehandschuh hinwarf.
Der erste Artikel des jungen Journalisten erschien in dem „Courrier français“, welchen Vermorel damals redigierte. Da gerade in Paris der gouvernementale Druck stärker als sonst wo war und jede Opposition in der Presse mit eiserner Gewalt darnieder hielt, ging Guesde bald in die Provinz, wo er zuerst in Toulouse, dann in Montpellier das Empire mit seiner scharfen Feder bekämpfte und für einen revolutionären Republikanismus eintrat. In Montpellier gab er zuerst die „Liberté“ (Freiheit), dann die „Droits de l’Homme“ (Menschenrechte) heraus. Ein in dem letztgenannten Blatte zur Zeit der Kriegserklärung erschienener Artikel, in welchem Guesde dem Volke im Gegensatz zu dem Kriege die Revolution empfahl und es aufforderte, anstatt gegen die Preußen gegen die Tuilerien zu ziehen, brachte ihm sechs Monate Gefängnis ein.
Die Pariser Kommune wirkte wie eine Offenbarung auf seine politischen Anschauungen, trotz aller in ihr zum Ausdruck gelangenden Unklarheit und Verworrenheit löste sich für Guesde aus ihr der Kern einer sozialistischen Proletariatsbewegung heraus, das Prinzip des Klassenkampfes sprang ihm in die Augen. Mit Freunden und Gesinnungsgenossen zusammen, unter denen sich auch Brousse befand, welcher damals dem Verwaltungsrat der „Droits be l’Homme“ angehörte und ein eingefleischter Proudhonist war, suchte Guesde in Montpellier eine Erhebung des Volks, Überrumpelung der Garnison und Erklärung der Kommune vorzubereiten. Der Plan ward jedoch durch einen Verrat vereitelt, noch ehe der Anfang zu seiner Verwirklichung gemacht werden konnte. Wegen eines Artikels, welcher die Kommune von Paris voll leidenschaftlicher Überzeugung verteidigte und die Bevölkerung von Montpellier zum Aufstand aufrief, ward Guesde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, er entzog sich jedoch mit Rücksicht auf ein Lungenleiden der über ihn verhängten Strafe durch die Flucht nach der Schweiz.
Kaum in Genf angekommen, nahm er sofort Fühlung mit der Internationale, schloss sich jedoch ebenso wenig an die von Outine geleitete Genfer Sektion an, welche dem Londoner Generalrat anhing, noch der anarchistischen Sektion des Jura, an deren Spitze Guillaume und Schukowski standen. Guesde gründete mit französischen Emigranten zusammen eine unabhängige, neutrale Sektion, die Sektion der Rue Longemale, welche weder für den Generalrat noch für die Anarchisten Partei ergriff. Guesde trug sich außerdem mit dem Plan, die Grundsätze des internationalen Sozialismus in einem Organ, „la République Universelle“ (die Universalrepublik) zu vertreten, das Projekt kam jedoch in Folge mangelnder Mittel nicht zur Ausführung.A Bald darauf gelang es Guesde, den „Reveil international“ (das internationale Erwachen) zu gründen, welcher jedoch nach etwa dreißig Nummern sein Erscheinen einstellen musste, weil Thiers den Herausgeber gekauft hatte. Von Genf aus siedelte Guesde nach Rom über, wo er mit Gnocchi-Viani zusammen die erste römische Sektion der Internationale ins Leben rief.
Obgleich er sich his dahin noch nicht mit dem Studium ökonomischer Werke beschäftigt hatte, war er doch durch Beobachtung der wirtschaftlichen Verhältnisse um sich her und des geschichtlichen Entwicklungsganges zu sehr geklärten Anschauungen gelangt, welche wohl noch vielfache Lücken zeigten, aber sich in den Hauptpunkten mit Marx‘ Theorien deckten — ein Beweis dafür, dass zu gewissen Zeiten in Folge der Verhältnisse gewisse Ideen wie in der Luft liegen und nur ihre Zusammenfassung und Verkörperung erwarten. Im Gegensatz zu der vielfach verbreiteten Ansicht, Guesde sei früher Anarchist gewesen und habe gegen das Jahr 1880 an anarchistischen Anwandlungen gelitten, muss betont werden, dass er bereits 1872 in einem „offenen Brief“ eine heftige Polemik mit den italienischen Anarchisten Costa und Cassiero unterhielt, und deren Lehre von der Propaganda durch die Tat in scharfer Weise bekämpfte.
Von Rom aus redigierte Guesde ein Jahr lang die „Égalité“ von Marseille; sein Leben schlug er mit dem klassischen Broterwerb der meisten politischen Flüchtlinge, mit Stundengeben und Übersetzungen durch. Als der Aufstand in Carthagena ausbrach, wollte Guesde den dortigen Insurgenten zu Hilfe eilen, wurde jedoch in Genua verhaftet, am Einschiffen verhindert und darauf mit Protot zusammen aus Italien ausgewiesen. Nach einem Aufenthalt in Lugano kehrte er auf neapolitanisches Gebiet zurück, wo er sich als Lehrer der französischen Sprache niederließ.
Hier veröffentlichte er eine Broschüre in Form eines offenen Briefes an den Senator Lampertica, welcher in einem ökonomischen Werke den sozialistischen Ideen entgegentrat, dies jedoch in anständiger Weise tat. Lamperticas Arbeit war das erste größere ökonomische Wert, welches Guesde las, trotzdem aber ist seine Antwort auf dasselbe „Della Proprietà“ (Von dem Eigentum) prinzipiell so korrekt gehalten, dass Guesde daran denkt, sie unverändert französisch erscheinen zu lassen.
1875 verfasste er auch in Italien den „Catéchisme Socialiste“ (den sozialistischen Katechismus), der erst 1878 erschien, und von dem eine Stelle Anlass zu der irrtümlichen Annahme von Guesdes Anarchismus gegeben hat. Derselbe erhebt sich nämlich dagegen, die künftige soziale Organisation mit dem Namen „Staat“ zu belegen, da diese grundverschieden von der Vorstellung sei, welche man gewohntermaßen mit diesem Ausdruck in Verbindung bringe. Er wendet sich also nur gegen das Wort Staat, aber nicht gegen die Idee einer gesellschaftlichen, zentralisierten Organisation. Die betreffende Stelle ward trotzdem so aufgefasst, als ob Guesde vom anarchistischen Standpunkte aus das Prinzip einer sozialen Organisation überhaupt bekämpfte, und Malon stützte sich auf dieselbe, um Guesde in seiner „Geschichte des Sozialismus“ (1879) unter die „Anarchisten“ zu klassifizieren. Obgleich Guesde in einem veröffentlichten Briefe gegen die falsche Auffassung seiner Worte protestiere und seinen kollektivistischen Standpunkt entwickelte, hat sich doch die Legende von dem ehemaligen Anarchismus desselben bis in berufene Kreise fortgesponnen.
Als Guesde 1876 nach Frankreich zurückkehren konnte, trat er sofort mit den aus Studenten, Gelehrten und etlichen Arbeitern bestehenden Studienzirkeln in Verbindung, welche damals die Keime einer sozialistischen Bewegung darstellten. „Les Droits be l’Homme“ von Paris erhielten durch seine Mitarbeiterschaft bedeutende Klärung und Zielbewusstsein. Die Leitung brachte treffliche Kritiken des Pariser Gewerkschaftskongresses und der Gewerkschaftsbewegung mit einseitigen Zielen überhaupt. Ferner nahm sie auch zu der Frage der Frauenarbeit eine prinzipiell richtige Stellung ein und begrüßte den Kongressbeschluss über Aufstellung von Arbeiterkandidaturen mit Freuden. Auch die „Droits de l’Homme“ enthalten eine scharfe Bekämpfung der italienischen Anarchisten im Anschluss an die Affäre von Benevent. Nach dem Verschwinden des erwähnten Blattes arbeitete Guesde an dessen Fortsetzung „le Radical“ mit, er verfolgte jedoch eine durchaus unabhängige Haltungslinie, und die Redaktion erklärte sich für seine Artikel nicht verantwortlich.
Zur selben Zeit trat er mit verschiedenen Arbeitern (Briolle, Baidy, Chirardet, Paulard etc.) in Verbindung. Die französische Arbeiterschaft im Allgemeinen war zu jener Zeit noch nicht sozialistisch, allein sie war unruhig, tastete nach neuen Zielen, einer neuen Devise der Bewegung hin und her, welche ihr Guesde in einer regen mündlichen Propaganda und bald darauf in dem ersten rein sozialistischen Wochenblatt „Égalité“ bot, welches er mit etlichen Gesinnungsgenossen zusammen 1877 herausgab, die sich der Mehrzahl nach aus Studenten und jungen Gelehrten rekrutierten, welche sich voller Opferfreudigkeit der Sache des Proletariats widmeten, wie vor allem der zu früh verstorbene Darrieux, der verantwortliche „Sitzredakteur“ des Blattes. Bemerkenswert ist auch an der ersten „Égalité“, dass Guesde sofort in Haltung und Mitarbeiterschaft des Blattes das internationale Element betonte. Ein deutscher Sozialist, ein überzeugter spanischer Marxist, beide in Paris lebend, arbeiteten von Anfang an an dem sozialistischen Wochenblatt mit, das bekannte Parteigenossen des Auslandes zu seinen Korrespondenten zählte und in der Folge eine Sammlung zugunsten der gemaßregelten deutschen Sozialdemokraten eröffnete.
Die erste „Égalité“ brachte eine klare sozialistische Prinzipienerklärung, gab ganze Kapitel aus Marx’ Kapital wieder und drängte auf eine politische Aktion des Proletariats durch Aufstellung von Klassenkandidaten hin, im Gegensatz zu den nichtssagenden Arbeiterkandidaturen, sie gab die Parole zu der Kandidatur Blanqui aus und polemisierte gegen den Anarchismus von Costa und dessen Freundin, der in Italien tätigen, klugen und energischen Russin Kulischowa. Guesdes Argumenten gelang es, Frau Kulischowa von ihren anarchistischen Irrtümern zu bekehren, und diese übte dann auf die Weiterentwicklung Costas einen entscheidenden Einfluss aus. Auch die erste „Égalité“ ist noch vielfach mit Unrecht anarchistischer Tendenzen geziehen worden. Anlass zu einer Verkennung hat wohl die entschieden revolutionäre Haltung des Blattes als Ausdruck von Guesdes durchaus revolutionärem Temperament. Die „Égalité“ musste am 14. Juli 1878 ihr Erscheinen einstellen, da sie infolge eines Artikels, „das wahre Attentat“, welcher eine Analogie zwischen dem Nobilingschuss und den Junitagen zog, zu einem Jahr Gefängnis und 1000 Franks Strafe verurteilt ward.
Den entscheidenden Einfluss, welchen Guesde auf die Organisation des ersten beabsichtigten internationalen Kongresses (1878) übte, den Vorteil, welchen er und seine Freunde aus dem Verbot desselben, der Verhaftung und dem Prozess der Delegieren zog, erwähnten wir schon an anderer Stelle. Possibilistischen Verleumdungen entgegen muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass gerade Guesde erklärte, ein außerhalb der bestehenden Arbeiterorganisationen zustande gebrachter Kongress müsse seinen Zweck verfehlen, und der dadurch den Plan Gautiers und anderer Anarchisten vereitelte, im Gegensatz zu dem von dem Lyoner Kongresse beschlossenen Arbeitertag einen sozialrevolutionären Kongress zu organisieren. Über Guesdes Haltung der nichtsozialistischen Gewerkschaftsbewegung gegenüber muss überhaupt bemerkt werden, dass dieselbe bei aller scharfen Kritik, die nicht zu vermeiden war, wollte er für den Sozialismus wirken, doch wohlwollend war. Die gewerkschaftlichen Organisationsbestrebungen fanden seinen Beifall, sowie auch der Beschluss, ein eigenes Arbeiterblatt „le Prolétaire“ zu schaffen. Die erste „Égalité“ eröffnete zugunsten des zu gründenden Blattes eine Sammlung, und die zweite „Égalité“ verlegte ihr Erscheinen von Sonnabend auf Mittwoch, obgleich die Égalitémänner wussten, dass sie dadurch deren Vertrieb bedeutend schmälerten.B
Nach dem Eingehen der ersten Égalité schrieb Guesde mit Longuet, Deville etc. zusammen in der radikalen „Revolution française.“ In Folge einer offenen Polemik mit Longuet, anlässlich dessen proudhonistischer, föderalistischer Anschauungen erhielt Guesde einen zustimmenden Brief von Karl Marx. Es war dies die erste Beziehung, welche sich zwischen ihm und dem Verfasser des „Kapitals“ anknüpfte, das er in den folgenden Jahren, besonders zur Zeit der zweiten „Égalité“ und unter Lafargues Einfluss studierte, wodurch er nicht nur Lücken seiner Erkenntnis füllte, sondern auch zu größerer Einheitlichkeit und Schärfe des Systems gelangte. Das Erscheinen der zweiten „Égalité“ ward durch die Ausgabe von 3000 Aktien à 1 Franc zur Deckung der Kaution ermöglicht. Das Blatt wirkte in der eingeschlagenen Richtung weiter, erhielt aber noch erhöhten Wert durch Lafargues Mitarbeiterschaft, die ihr einen tieferen und wissenschaftlicheren Charakter verlieh. Es wurde Guesde oft zum Vorwurf gemacht, er halte in seinen Organen zu sehr auf einen literarischen Firnis, schließe daher grundsätzlich die Mitarbeiterschaft der Arbeiter aus, und suche nur sich und seine engeren Freunde glänzen zu lassen. Die Arbeiter versuchten jedoch nicht, an einer der „Égalité“ mitzuarbeiten und was von dem Glänzenwollen Guesdes wahr ist, zeigt der Umstand, dass grundsätzlich alle Artikel nicht gezeichnet wurden, damit es um so leichter sein sollte, alle Artikel zurückzuweisen, welche nicht die prinzipielle Feuerprobe bestanden.
Der propagandistischen Tätigkeit Guesdes und seiner Freunde, von denen wir noch Ferroul und Fournier erwähnen, dem klärenden Einfluss der „Égalité“ war es zu verdanken, dass auf dem Kongress zu Marseille der Sozialismus über das Nichts-als-Gewerkschaftstum triumphierte. Der „Prolétaire“ hatte in der Streitfrage zwischen Sozialisten und Barbaretisten keine entschiedene Haltung eingenommen, „da er mit dem Geld der Arbeiter gegründet sei, und deshalb keine eigene Meinung haben dürfe.“
Als sich Guesde auf Malons Veranlassung nach London begab, um mit Marx, Engels und Lafargue zusammen für die junge Partei ein sozialistisches Programm auszuarbeiten, das ein Kampfesmittel werden sollte, geschah es besonders auf seine Argumente hin, dass in dem sogenannten Minimumprogramm der Reformen die Forderung eines Minimallohnes eingefügt ward. Obgleich davon überzeugt, dass der betreffende Paragraf vom ökonomischen Standpunkte aus durchaus überflüssig war, bestand Guesde auf dessen Aufnahme mit Rücksicht auf die geringere wirtschaftliche Schulung der französischen Arbeiterschaft, und nach zähem Widerstande fügte sich Marx. Das später so verrufene „ausländische Programm“ wurde damals von Guesde, Brousse und Malon den Gruppen vorgelegt, nach einzelnen Abänderungen auf dem Regionalkongress von Paris (1880) angenommen und ebenso von dem Nationalkongress zu Havre, auf welchem Guesde nicht anwesend war.
Als Guesde in der Folge behufs seiner Mitarbeiterschaft an dem in Lyon erscheinenden sozialistischen Tageblatt „L’Émancipation sociale“ nach der genannten Stadt übersiedelte, nutzte Brousse seine Abwesenheit von Paris zu unerhörten Ränken und Intrigen aus. Welche verhängnisvollen Folgen dieselben auf die Weiterentwicklung der kaum zustande gekommenen Arbeiterpartei ausübten, ist an anderer Stelle entwickelt worden.C
Nach der auf dem Kongress zu St. Étienne (1882) erfolgten Spaltung der Arbeiterpartei systematisch in seinem Wirken von der possibilistischen Fraktion durchkreuzt und gehemmt, hat Guesde doch nicht eine Minute auf den in Wort und Schrift geführten Kampf zur Ausbreitung der sozialistischen Prinzipien und zur Klärung der unter der Arbeiterschaft vorhandenen Ideen verzichtet. In den Artikeln, welche er nach dem Eingehen der „Emanzipation“ in dem „Citoyen“ veröffentlichte, dann im „Citoyen et Bataille“, in einer dritten „Égalité“, im „Cri du Peuple“, in dem „Voix du Peuple“, im ersten und zweiten „Socialiste“ — als Wochenorgane 1885 und 1886-87 erschienen — ward er nicht müde, das Proletariat zum Klassenbewusstsein wachzurütteln, es zur Scharung um das Banner des modernen Sozialismus aufzufordern. Welches Verdienst er sich um die Klärung der sozialistischen Ideen in Frankreich erworben, das wird erst voll und ganz eine gerechtere, nicht durch Parteihass verblendete Nachwelt anerkennen.
Außer den laufenden Artikeln in den genannten Blättern und den sozialistischen Organen der Provinz verfasste Guesde eine Reihe von Broschüren, welche nach Form und Inhalt zu dem besten gehören, was die französische sozialistische Broschürenliteratur bietet. Außer den bereits erwähnten Werkchen führen wir noch an: „La République et Ies Grèves“ (die Republik und die Streiks), „Le Collectivisme devant la Dixième Chambre (der Kollektivismus vor der zehnten Gerichtskammer), „La Loi de salaire et ses conséquences“ (das Lohngesetz und seine Folgen), „Collectivisme et Revolution“, „le Collectivisme au collège de France“ (der Kollektivismus vor dem Kolleg de France), „Les services publiques et le Socialisme“ (die gemeinwirtschaftlichen Betriebe und der Sozialismus) und das mit Lafargue zusammen verfasste „Programm der Arbeiterpartei“, ein wahres Meisterwerk.
Die meisten der Broschüren sind polemischer Natur, weil sie unter dem Einflusse oder sozusagen als Gegengift gegen die unter den Arbeitern sich breit machenden irrtümlichen Theorien entstanden sind. Dieser polemische Charakter verleiht ihnen aber gerade eine ungemeine Lebendigkeit, die Ideen sprühen bald in feiner Ironie hervor, bald stürzen sie in fortreißender, überzeugender Leidenschaftlichkeit vorwärts. Guesde trägt alle Vorzüge seines so unvergleichlichen Rednertalents in seine Schriften hinein, welche der Form nach ebenso fesselnd und anziehend, als dem Inhalt nach klar, prinzipiell fest und erzieherisch wirkend sind. Eigentümlich für Guesdes Darstellungsweise in Wort und Schrift ist, dass er neue Worte und Ausdrücke erfindet, welche, ebenso bezeichnend als geistreich, einer Vorstellung oder Sache eine charakteristische Form aufprägen.
Rochefort ist in seinen besten Zeiten kein schneidigerer und geistreicherer Polemiker gewesen als Jules Guesde, dem er an Tiefe, Klarheit und Überzeugung bedeutend nachsteht.
Neben seiner journalistischen und publizistischen Tätigkeit entfaltete Guesde ein reiches agitatorisches Wirken in Versammlungen und Konferenzen. Ganz besonders nahm er es auf sich, die Provinz sozialistisch zu bearbeiten, Norden und Süden, Osten und Westen hat er als Propagandist und Agitator durchzogen, und es gibt kaum eine bedeutendere Stadt, ein größeres Industriezentrum, dessen Bevölkerung er nicht das Evangelium des Sozialismus verkündet hätte. Die größte Anzahl der in der Provinz bestehenden Organisationen sind aus Guesdes Agitation, auf seine Initiative ober wenigstens seinen indirekten Einfluss zurückzuführen. Es ist kein Jahr vergangen, in dem er nicht eine größere Agitationsreise unternommen hätte, und von den Städten, in welchen er den Anstoß zu einer Arbeiterbewegung, zur Organisation gegeben, greifen wir nur aufs Geratewohl heraus: Cette, Lyon, Rimes, St. Étienne, Roanne, Roubaix, Lille, Calais, Boulogne, St. Quentin, Reims, Troyes, Montluçon, Commentry, Alais, Bordeaux, Limoges, Rochefort, Angoulême, Narbonne, Montpellier, Châtelerault, Beziers, Lodève, Perpignan, Vienne, Valence etc. etc. Ganz besonders ist er im Departement des Nord und des Allier tätig gewesen und die daselbst bestehenden durchaus auf dem Prinzipe des Klassenkampfes fußenden Organisationen sind dem Ursprung und dem Inhalt nach sein Werk. Wenn künftig die Provinz nicht mehr all reaktionäres Bleigewicht die proletarische Bewegung von Paris hemmt, sondern wenn der sozialistische Pulsschlag im ganzen Lande ein kräftiges Echo findet, so ist dies zum größten Teil Guesdes Verdienst.
Aber auch das Pariser Proletariat hat reiche Gelegenheit gehabt, Guesde als Agitator kennen und schätzen zu lernen. Bei jeder Gelegenheit hat er auf der Bresche gestanden, um die sozialistische Quintessenz aus Situation und Ereignissen zu ziehen.
Gerade als Redner gibt er voll und ganz das Maß seiner reichen und durchaus originellen, eigenartigen Begabung. Das polemische, leidenschaftliche und geistreiche Element seines Charakters gelangt dann zu seinem vollen Recht. Guesde ist seiner ganzen Natur nach ein tatendurstiger Kämpfer, fühlt sich nirgends mehr heimisch und in seinem Element als auf der Rednerbühne. Seine klare, weithin reichende Stimme wird leicht etwas gellend, aber sie verschafft stets ihrem Träger Geltung und bohrt die Ideen sozusagen in das Gehirn ein. Seine scharfen, klaren, geistreichen Darlegungen, die unvergleichlichen Analysen von Einrichtungen und Vorgängen des gesellschaftlichen Organismus imponieren dem Auditorium und reißen es gegen dessen Willen mit fort. Er spricht schnell, voller Begeisterung und Überzeugung, allen Einwendungen und allen Gegnern an unübertrefflicher Schlagfertigkeit gewachsen. Schneidiger Dialektiker, ist er zu seinen Polemiken und Darlegungen doch nie kalt, sondern stets heftig, leidenschaftlich, auflodernd und ironisch beißend. Seine Reden sind mit ergreifenden Bildern emailliert und von echter glühender Leidenschaftlichkeit durchweht. Er spricht mit solcher Schärfe und Heftigkeit, dass man vermeinen könnte, er vertrete seine eigensten persönlichen Angelegenheiten. Er erscheint auf der Tribüne als die Verkörperung der vom Proletariat erhobenen Forderungen, aber auch als die Verkörperung der Ungerechtigkeiten, welche dieses erlitten und noch erleidet. Guesde schreibt und spricht übrigens nie für den Gegner, sondern stets über den Gegner hinweg für das breite Publikum, die Masse, welche er zum Kampf zu wecken und zu schulen trachtet. Seine Leidenschaftlichkeit reißt fort und begeistert, seine strenge Logik überzeugt, sein beißender Witz fesselt, und seine feine und schneidende Ironie wirkt ungemein aufreizend. Belehrend oder kämpfend bleibt er der Typus eines eifernden Apostels, in dem eine Feuerseele wohnt.
Seine äußere Erscheinung steht in voller Harmonie zu seinem Charakter, denn Guesde ist auch äußerlich eine scharf ausgeprägte, bedeutende Persönlichkeit, die Aufmerksamkeit heischt und einen tiefen Eindruck zurücklässt. Die hohe fast hagere Gestalt trägt einen fein und scharf geschnittenen Kopf, aus dessen Zügen Geist, Leidenschaft und eine unbeugsame Energie spricht. Die krankhafte Blässe des Gesichts wird durch das lange schwarze Haar und den schwarzen Bart noch mehr gehoben, und die lebhaft und scharf prüfend blickenden Augen sprühen durch das Pincenez hindurch wahre Funken.
Der vorstehende Überblick über sein Wirken sollte wenigstens eine Vorstellung von der nie rastenden, aufreibenden Tätigkeit des Mannes geben, welcher in agitatorischer Beziehung die eigentliche Seele der sozialistischen Bewegung in Frankreich, in prinzipieller Hinsicht mit Lafargue und Denisse zusammen ihre festeste Stütze ist.
Sollte nicht eine große Kränklichkeit Guesdes unermüdlichen Willen ein vorzeitiges Ende bereiten — und das würde für die französische Arbeiterbewegung einen unersetzlichen Verlust bedeuten — so sind von seiner Tätigkeit noch die besten und weittragendsten Ergebnisse für die Entwicklung des Sozialismus in Frankreich zu erwarten.
Zum Schluss sei noch hinsichtlich vieler Verleumdungen über Guesdes Privatleben hinzugefügt, dass dasselbe trotz des Geredes aller politischen Klatschbasen tadellos ist. Der Mann, den man so gern des Ehrgeizes und aller eigennützigen Instinkte zeiht, lebt mit seiner Familie in einer an das herbste Elend grenzenden Dürftigkeit. Ein Egoismus eigener Art, dem man nur viele Nachahmer wünschen könnte, wie auch dem einzigen Ehrgeiz, das Banner seiner Überzeugungen unbesiegt und kompromissfrei zu erhalten.
Seine Natur, welche sich nur voll und ganz geben kann, hat es unmöglich gemacht, neben den Interessen der Sache auch die persönlichen Interessen zu wahren und zu verfolgen. Andere widmen der Bewegung viel Zeit und Kraft, arbeiten gewissenhaft und tapfer für dieselbe, Guesde dagegen lebt nur für sie, er geht vollständig in ihr auf.
Wenn sich die sozialistischen Fraktionen Frankreichs erst soweit geklärt und geeinigt haben, um ihre eigenen Vertreter in die Kammer zu schicken, so ist niemand wie Guesde berufen, das Banner des sozialistischen Proletariats im Parlament zu entfalten. Die Tribüne der Kammer wäre die rechte Rednerbühne, von der aus sein mächtiges Wort vernehmlich über das ganze Land schallen müsste, um das Proletariat von Nord und Süd, Ost und West zum Klassenbewusstsein, zum Streit wachzurütteln und es um die Fahne zu scharen mit dem stolzen Mahnruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch.“
A Die Anarchisten knüpften an dasselbe den lächerlich blöden Klatsch, Guesde habe sich zum Präsidenten der Universalrepublik machen wollen. Wir erwähnen der Sache nur, um durch ein Beispiel zu zeigen, welcher Art die Gerüchte sind, die über Guesdes Ehrgeiz, Autoritarismus und diktatorische Gelüste im Umlauf sind, und die sich mit Brousse zusammen aus dem Anarchismus in den Possibilismus hinübergerettet haben.
B Diesen Tatsachen gegenüber hat Brousse die Stirn zu behaupten, die mehr als ein Jahr vor dem Erscheinen des „Prolétaire“ gegründete „Égalité“ sei mit dem Gelde der „deutschen, marxistischen Koterie“ ins Leben gerufen worden, um dem „Prolétaire“ Konkurrenz zu machen“! Die erste „Égalité“ erschien im November 1877, der erste „Prolétaire“ im Dezember 1878!
C Zu dem Konto der gegen Guesde geschleuderten Beschuldigungen muss nur noch über die immer hervorgezogene „Ehrenwortaffäre“ bemerkt werden, dass nicht nur die Föderation des Nordens, sondern alle Föderationen überhaupt das gegebene Versprechen der Redakteure der „Emanzipation“ für ungültig und jede diesbezügliche Prinzipienreiterei für tadelnswert erklärten. Wie wenig Guesde selbst an eine eventuelle Kandidatur in Roubaix gedacht, geht daraus hervor, dass er aus einem entfernten Winkel der Normandie geholt werden musste, und dass er nur als Kandidat auftrat, weil nicht die geringste Aussicht auf einen Wahlsieg vorhanden war. Trotz des letzteren Umstandes entwickelte er eine fieberhafte Agitation, er hielt z.B. in acht Tagen fünfzehn Wahlversammlungen ab, die letzte von ihnen vor einem sich auf 500 Köpfe belaufenden, ausschließlich aus Frauen bestehenden Publikum.
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