(18. Januar 1918, Aus dem Brief an Mathilde Jacob, die Sekretärin Rosa Luxemburgs)
[Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, Archiv. Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1957, S. 71-74]
Wilhelmshöhe, d. 18. Januar 1919
Post Degerloch bei Stuttgart
Liebes Fräulein Mathilde, teure Freundin,
gestern früh kam die entsetzliche Kunde. Am Nachmittag vorher brachten die Zeitungen die Nachricht von Karls und Rosas Verhaftung. Mir ahnte Schlimmes, und ich telegrafierte sofort an Haase und Frau Zietz, dass alles zum Schutz für die beiden aufgeboten werden müsse. Schrieb auch einen Eilbrief in diesem Sinne an Eisner, damit er seinen amtlichen Einfluss geltend mache.1 Ich war fest entschlossen, trotz Krankheit, Verkehrsschwierigkeiten und Rosas Abratungen nach Berlin zu reisen, um dort Himmel und Hölle zum Schutz der beiden Teuren, Unersetzlichen in Bewegung zu setzen.
Da kamen gestern die Morgenblätter. Alles aus! Ach, meine teure Mathilde, Sie müssen verstehen, wie es seither in mir aussieht. Denn wenn Sie auch nicht mit im politischen Kampfe standen, so haben Sie doch die beiden persönlich, menschlich besser gekannt und verstanden als sehr viele politische Kämpfer. Sie wissen, was mit ihnen gemacht worden ist. Und so komme ich mit meiner Verzweiflung zu Ihnen. Lebe ich überhaupt noch und kann ich nach diesem Furchtbarsten noch leben? Ich möchte weinen, einen Schrei ausstoßen, der die ganze Welt erschüttern, umstürzen müsste; nur nicht denken, an das Eine Entsetzliche denken: Sie sind tot, gemeuchelt, gemeuchelt unter den grausigsten Umständen. Ich begreife es nicht, dass das Leben ohne Karl und Rosa seinen Gang weitergehen kann, dass draußen die Sonne scheint. Uns deucht es, dass sie ihren Glanz verloren hat und dass die Zeit stille steht, dass sie nicht über das Schreckliche hinaus vorwärts will. Ach, Mathilde, Mathilde, was haben wir verloren! Ihre Teilnahme tut uns wohl, aber unsere Verzweiflung kann sie nicht mildern. Um Rosas willen, für sie, wollen wir versuchen, das Leben ohne sie zu tragen. Aber ob uns das möglich sein wird, ob es nicht über unsere Kraft geht, das stehet dahin. Und unsere eigene Verzweiflung lässt uns an den Schmerz der anderen Freunde denken. Was müssen Sie, liebste Mathilde, empfinden, was der arme, eingesperrte Leo [Jogiches], was die unglückselige Sonja, für die Karl der Lebensinhalt war, was die Einfachen, Schlichten, die die letzte Zeit mit den beiden zusammengearbeitet und zusammen gekämpft haben! Wir gehören in unserer Seelennot zusammen.
Mathilde, werden wir es tragen können, ohne die beiden, ohne Rosa zu leben? Der Versuch, es zu tun, hat für mich nur einen Sinn, dem Leben diesen Inhalt zu geben: im Geist der beiden unter den Massen und mit den Massen zu arbeiten und kämpfen, darüber zu wachen, dafür zu sorgen, dass der Geist der Gemeuchelten führend bleibt. Das ist Rosas Testament für mich. Dazu gehört auch, dass Rosas Arbeiten gesammelt und herausgebracht werden. Sie sind uns kostbare, lebendige Hinterlassenschaft, die den Massen gehört, sie werden, zusammen mit der künftigen Entwicklung der revolutionären Bewegung, das Denkmal sein, das Rosa gebührt, dauerhafter als Erz. Ich will meine ganze Kraft daran setzen, dass Karl und Rosa dieses ihnen allein würdige Monument in der sozialistischen Literatur und in der Geschichte erhalten.
Liebste Freundin, es ist Ihre Aufgabe, darüber zu wachen, dass nicht ein Zettel, nicht eine Zeile von Rosas Manuskripten verschleppt und verstreut wird, nicht eine ihrer alten, bereits gedruckten Arbeiten, Artikel, Broschüren etc. abhanden kommt. Sie müssen mit Argusaugen darüber wachen, dass unter dem Vorwand gerichtlicher Feststellungen, Haussuchungen etc. nichts, auch gar nichts von Rosas geistiger und politischer Hinterlassenschaft entwendet werden kann. Sie brauchen zu dem allen einen Rechtsanwalt. Hoffentlich wird es Ihnen nicht an einem solchen fehlen, der das richtige Verständnis und die erforderliche Schneidigkeit besitzt. Rosas geistiges Erbe muss verteidigt werden, es gehört dem revolutionären Proletariat. Auch Unberufene wie Kautsky & Co. dürfen nicht die Hand drauf legen. Es wäre Leichenschändung. Dass Leo nicht frei ist! Wir müssen auch alle älteren Arbeiten von Rosa sammeln. Ich fürchte, Rosa hat es gemacht wie ich: Es genügte ihr‚ dass sie ihre Gedanken in die Bewegung geworfen hatte, verschwenderisch austeilend, sie hat ihre Arbeiten aber nicht gesammelt. Wir müssen ihnen daher in Zeitungen und Zeitschriften nachgehen. Besonders kommt auch in Betracht, was sie in den letzten Jahren und Wochen geschrieben. „Die Rote Fahne” wird für diese Revolution sein, was die „Neue Rheinische Zeitung” für die Revolution von 1848 gewesen: die führende Stimme des Sozialismus. In ihr hat das Herz der Revolution geschlagen.
Der Meuchelmord an Karl und Rosa sieht ganz wie bestellte Arbeit aus. Die Massenmörder der Regierung fürchteten die Unannehmlichkeiten und die aufrüttelnde Wirkung eines Prozesses gegen sie, fürchteten den unerbittlichen Kampf der beiden, der vorübergehend gehindert, aber nie gebrochen werden konnte. Man wollte der Revolution den tapferen kämpfenden Arm, das leuchtende, leitende Hirn, das leidenschaftlich glühende Herz rauben.
Karl und Rosa wurden gemeuchelt. Nein! Sie werden, nicht nur für uns leben, sie werden, sie müssen für die Massen leben, die bleiben, denen sie Leib und Seele gegeben, geopfert haben. Können Herzen, wie die ihren, stille stehen, Geister, wie die ihren, aufhören zu leuchten, schöpferisch zu sein? Sobald es nur geht, komme ich nach Berlin, um persönlich über Allerlei zu sprechen, was sich brieflich kaum erledigen lässt. Sagen Sie den Freunden, dass ich mehr als je zu ihnen stehe, dass wir die Zähne zusammenbeißen und „durchhalten” müssen. Das ist die Mahnung der Toten an die Lebenden. Wenn es Ihnen möglich wäre, mir etwas Nachricht zu geben, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Aber eingeschrieben. Ihren letzten Brief erhielt ich mit der gleichen Post, die mir 8 Seiten von Rosa brachte, geschrieben am 11. im Feuer, der Gefahr des Kampfes. Ein so lieber Brief, ganz Rosa, und nun — ich darf nicht denken!
Liebe, gute Freundin, verzeihen Sie, dass ich mich nicht mehr in der Hand habe. Es geht über meine Kraft. Grüßen Sie alle, die eines Schmerzes mit uns sind. Ich küsse Sie in herzlicher Freundschaft
Ihre Clara Zetkin
1Kurt Eisner, USPD, war bayerischer Ministerpräsident
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