Leo Trotzki: Die Losung des Moments

[„Borjba“ Nr. 5, 16./29. Mai 1914. eigene Übersetzung nach dem Nachdruck in Политическая хроника {Politischeskaja Chronika}]

Das politische Leben im Lande wird immer angespannter, die einzelnen Monate erhalten ihre grelle Physiognomie und werden zu Meilensteinen auf dem Weg zu noch dramatischeren Ereignissen.

Der März entfaltete ein Bild des Auftretens der wichtigsten Gesellschaftsklassen in Verbindung mit einer erschütternden Epidemie von Vergiftungen und Hysterie. Das Proletariat demonstrierte seine hilfsbereite Solidarität mit den am meisten gejagten Opfern der kapitalistischen Ausbeutung. Schwarze Banden brachten üble Verleumdungen über sozialistischen Giftmischer in Umlauf. Der Liberalismus wich feige zurück. Das vereinigte Kapital verhängte vor Ostern eine Aussperrung gegen Arbeiter, die sich des Verbrechens der Klassensolidarität schuldig gemacht hatten. Die Verwaltung fiel der stärksten Arbeiterorganisation, dem Metallarbeiterverband, in den Rücken. Aber das Proletariat ging ungebrochen aus diesen Prüfungen hervor, seine Reihen sind enger geschlossen und sein politischer Blick wurde scharfsinniger.

Der April stellte die Arbeiterklasse vor die Frage nach den beiden wichtigsten Werkzeugen ihres Kampfes: die Arbeiterpresse und die Dumatribüne. Der 22. April wurde zu einem historischen Tag. In einer Zeit, als sich die Arbeitermassen mit überschwänglichem Idealismus um ihre Presse versammelten, führte die Duma-Mehrheit die Arbeiterdeputierten unter Soldateneskorte vor die Tür des Sitzungssaals. Die peinliche „Geste“ der Dritter-Juni-Leute erhielt unter diesen Umständen eine besondere symbolische Bedeutung: „Ihre Stärke, Ihre Unterstützung ist nicht hier, wo die Rodsjankos in einem Schwall kraftloser Duckmäuserei sich ausbreiten, sondern dort, jenseits der Türschwelle des Taurischen Palastes, wo die erwachten Massen in einem Ring der Solidarität und Unversöhnlichkeit zusammengelötet sind!“

Und kaum hatten die Arbeiter die Ergebnisse der April-Ereignisse resümiert, als der Tag des 1. Mai alle Fragen der Arbeiterbewegung auf eine internationale prinzipielle Höhe hob. Dieser Tag führte erneut vor, dass nur die Arbeitermassen, die in ihrem täglichen Kampf unermüdlich jede Spanne der von ihnen errungenen Positionen verteidigen und sich um jede Forderung scharen, dass nur sie in ihrer Treue zu den grundlegenden Losungen der Demokratie und des Sozialismus gestählt sind – nach dem Wort des Evangeliums: wer im Kleinen treu ist, wird auch im Großen treu sein….

Der Tag des 1. Mai hat aber auch noch etwas anderes gezeigt: wie weit St. Petersburg von den Provinzen, wie weit die Metallarbeiter von den anderen Kategorien des Proletariats entfernt waren – und wie sehr man Anstrengungen unternehmen muss, die Klassenreihen anzugleichen.

Damit sich die Bewegung zu einer neuen Höhe erheben kann, ist es zuallererst erforderlich, ihre Basis (Grundlage) zu verbreitern, – die schweren Massen der Armee zu ihrer Vorhut heranzuziehen, die Vorhut zu stärken, die Reserven auf die Beine zu stellen. Dieser Aufgabe müssen jetzt alle Kräfte untergeordnet werden.

Die Verbreiterung und Vertiefung des Flussbetts der Bewegung ist die wahre Losung des Moments!


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