A. Das Wesen des Geistes
„Der Menschenschädel besorgt das Denken so unwillkürlich, wie die Brust das Atmen.“ Mit anderen Worten: die Denkkraft ist dem Menschen angeboren, er wendet sie an, lange ehe die allgemeine Natur des Denkprozesses ihm klar geworden ist, so wie die Äcker bebaut werden, lange bevor von einer Wissenschaft der Agrikultur die Rede ist. Die Wissenschaft des Denkvermögens, die Erkenntnistheorie, hat ihre nächste Quelle in der Erfahrung: ihr Material sind die mannigfaltigen Denkakte selbst. Es ist die Aufgabe der Philosophie gewesen, in einer jahrtausendlangen Entwicklung das Wesen des Denkprozesses zu erhellen und damit alle allgemeinen Rätsel der Natur und des Lebens wissenschaftlich zu lösen.
Das Denken ist eine Funktion des Gehirns, sowie das Schreiben eine Funktion der Hand und das Gehen eine Funktion der Beine ist. Denken ist also eine körperliche Tätigkeit, ein innerlicher Prozess. Wir empfinden das Rumoren des Geistes im Kopfe, wir nehmen ihn ebenso sinnlich wahr, als wir alle anderen subjektiven Vorgänge wahrnehmen. Seinem Inhalte nach ist das Denken in allen Augenblicken, bei allen Subjekten verschieden, seiner Form nach ist es überall gleich. Sein allgemeiner Zweck ist die Erkenntnis.
Wie jedes andere Ding erscheint der Gedanke nur in Beziehung zu einem anderen, in Zusammenhang mit irgend einem Gegenstand, woran er sich äußert. Wie die Wärme nicht sein kann, ohne etwas, was sich erwärmen lässt, und das Sichtbare nicht ohne Gesicht; wie der Gang nicht sein kann, ohne den Raum, den er durchmisst, so kann der Gedanke nicht rein „für sich“ bestehen oder wirken, sondern immer nur in Verbindung mit anderen sinnlichen Erscheinungen. Nur über diese, über das sinnlich Wahrgenommene, kann der Mensch denken.
Jede sinnliche Tätigkeit, außer der des Geistes, beschränkt sich auf eine besondere Kategorie von Gegenständen. Die Hand kann nur das Greifbare fassen, das Auge nur das Sichtbare sehen. Dem Geist ist dagegen alles Gegenstand, seine Tätigkeit erstrebt sich über alle Objekte, er vermag alles zu erkennen, und nur was er erkennt, was Material seiner Tätigkeit wird, werden wir überhaupt gewahr. Die Universalität des Denkens unterscheidet es von jeder anderen sinnlichen Tätigkeit. Jedoch soll nicht übersehen werden, dass auch diese Universalität begrenzt und beschränkt ist, dass wohl alle Objekte erkennbar sind, aber kein Objekt sich absolut erkennen lässt, keine Erscheinung in Erkenntnis aufgeht.
Die Dinge existieren also gewissermaßen zweimal: einmal draußen, im Strom der Sinnlichkeit, und einmal in der Vorstellung, als Abbilder, welche der Menschenkopf von ihnen produziert. Jedoch sind die Dinge im Kopfe nicht ebenso beschaffen, wie die Dinge in der Welt. Die unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit geht nicht in den Menschenkopf hinein: nur ihre Begriffe, ihre allgemeine Form kann er aufnehmen. Der Kopf fasst abstrakt, in einheitlicher Form zusammen, was draußen konkret, in unendlicher Verschiedenheit lebt und webt.
Sowie alle Dinge gewissermaßen zweimal existieren: einmal in der Welt individuell und konkret und einmal im Kopfe als Gedankendinge, Erkenntnisse oder Wahrheiten, so hat auch der Geist selbst eine doppelte Existenz. Er besteht sowohl in der Erscheinung, in der unendlichen Mannigfaltigkeit der verschiedenen Denkakte, als in der Abstraktion, als allgemeiner Inbegriff aller dieser verschiedenen Erscheinungen, wie der Baumbegriff als allgemeine geistige Zusammenfassung aller unzähligen, wirklichen Bäume besteht.
Mittelst Analyse ihrer mannigfaltigen Erscheinungen gewinnen wir aus der Erfahrung den Allgemeinbegriff irgend einer Sache, wie des Lichts oder der Wärme. Wir erkennen damit das Gemeinsame aller Licht- oder Wärmeerscheinungen. Desgleichen geht die Erzeugung des Begriffs der Denkkraft aus der Analyse ihrer mannigfaltigen Erscheinungen und aus der Erkenntnis des ihnen Gemeinsamen hervor. Wie durch Entdeckung des Gemeinsamen in allen verschiedenen Gangarten, nämlich der taktmäßigen Bewegung, der Gangbegriff gebildet, und des Gemeinsamen an allen roten, blauen und gelben, schwachen oder starken Lichterscheinungen der Lichtbegriff erkannt wird, so gelangen wir zur Erzeugung des Begriffes der Denkkraft durch Aufsuchen des Gemeinsamen bei allen persönlich und zeitlich verschiedenen Denkakten.
Die an den sinnlichen Objekten erzeugten Gedanken dienen also als Material, woraus der Begriff des Denkvermögens produziert wird. Die Existenz dieses Vermögens geht nicht zeitlich den einzelnen Denkakten vorher, es bildet nicht die geheimnisvolle Quelle, woraus diese entspringen. Umgekehrt: aus dem konkreten Gedankenmaterial erzeugt erst die Hirntätigkeit den Vernunftbegriff. Der Begriff der Denkkraft setzt deren Erfahrung voraus; er besteht nur als die Gesamtsumme unserer Gedanken, als gemeinschaftlicher Inhalt aller verschiedenen Denkakte.
Das Besondere, Konkrete, Sinnliche ist das Material alles Denkens. Anders ausgedrückt heißt dies: die Vernunft besteht in der Entwicklung des Allgemeinen oder Abstrakten aus dem Konkreten oder sinnlich Gegebenen. Die Ermittlung des Generellen aus dem Besonderen bildet also den gemeinschaftlichen Inhalt aller verschiedenen Denkakte, die allgemeine Form der Vernunft. Denken heißt: aus der mannigfaltigen Besonderheit das Allgemeine hervorbringen. Die Vernunft ist die Fähigkeit, in Kontakt mit der Sinnlichkeit Begriffe, Abstraktionen zu produzieren. Die Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen ist die Art und Weise überhaupt, in der die Hirnfunktion Erkenntnisse erzeugt. Das Wesen des Geistes ist somit erkannt.
Das Material des Geistes ist das allgemeine Sein, das fließende All der Erscheinungen. Die Sinne geben den Stoff des Universums durchaus qualitativ, absolut mannigfaltig und flüchtig als einen Strom des ewigen Wechsels. „Die absolut relative, flüchtige Form der Sinneswelt dient der Hirntätigkeit als Materiatur, um durch Abstraktion nach Kennzeichen des Ähnlichen oder Generellen für unser Bewusstsein systematisiert, geordnet oder geregelt zu werden.“1) Aus dem ihm von den Sinnen gegebenen Stoff produziert der Geist durch Einteilung Allgemeinheiten, Quantitäten. Einteilen und Gruppieren ist das Wesen der menschlichen Intelligenz. „Die unbegrenzt mannigfaltige Sinnlichkeit passiert am Geiste, der subjektiven Einheit, vorbei und er setzt nun aus dem Vielen das Eine, aus den Teilen das Ganze, aus den Erscheinungen das Wesen, aus dem Vergänglichen das Unvergängliche, aus Akzidenzien die Substanz zusammen.“2)
Der Geist produziert also die „Substanzen“: er ist ihr Schöpfer, er erzeugt den Substanzbegriff, er erfasst die vergängliche Welt als ein selbständiges Wesen. Das Denkvermögen tut instinktiv, was der wissenschaftliche Begriff bewusst wiederholt: er bestrebt sich, das summarische Gesetz der Erscheinungen, das allgemeine Sein der Dinge aufzudecken. Das allgemeine Sein ist das wahre Sein, die allgemeine, die wahre Eigenschaft einer Sache; das Allgemeine entdecken in einem gegebenen Quantum sinnlicher Qualität, ist Wahrheit produzieren.
An sich sind Gedanken weder wahr noch irrig. Sie sind einfach Teile der Welt, des allgemeinen Seins; irrig oder wahr sind sie nur mit Bezug auf ein bestimmtes gegebenes Objekt3): die Wahrheit besteht in der Entdeckung des Allgemeinen in einem gegebenen Zyklus sinnlicher Erscheinungen. Erkenntnisse sind nie absolut wahr, sondern immer nur mit Bezug auf einen bestimmten Gegenstand, innerhalb gesetzter Schranken und unter bestimmten Voraussetzungen. Ebenso enthalten auch Irrtümer, unter gewissen Voraussetzungen, Wahrheit. Dass der gerade Stock im fließenden Wasser winklig wird, ist ein Irrtum, wenn wir dies als plastische Tatsache auffassen; jedoch eingeschränkt auf den optischen Schein, ist es Wahrheit. Irren ist also nichts anderes, als innerhalb eines gegebenen Kreises sinnlicher Erscheinungen Einzelnes oder Besonderes als das Allgemeine ausgeben.4) Der Irrtum unterscheidet sich dadurch von der Wahrheit, dass er der bestimmten Tatsache, deren Ausdruck er ist, ein weiteres, allgemeineres Sein zuspricht, als die Erfahrung lehrt. Nicht die Sinne sind, wie die ältere Philosophie dies annahm, die Quelle von Irrtum und Trug. Im Gegenteil: in den Zeugnissen der Sinne ist nichts Falsches vom Echten zu sondern. Ein Wahn oder ein Traumbild sind an sich ebenso wahr, ebenso Teile des allgemeinen Seins wie materielle Gegenstände. Die Quelle der Irrtümer liegt im Geiste, im Bewusstsein. Der Geist ist es, welcher Zeugnisse der Sinne dadurch falsch interpretiert, dass er Besonderes für Allgemeines hält, Visionen für plastische Erscheinungen, subjektive Begriffe für leibhaftige Körper. Der Geist irrt, insoweit er für die Sinneseindrücke ein allgemeineres Sein annimmt, als ihnen zukommt. Kurz zusammengefasst : die Ehre, Produzent der Wahrheit zu sein, kommt dem Geist nicht zu. Er ist ein Apparat, der die Fähigkeit hat, Erkenntnisse oder Bilder der Wahrheit hervorzubringen. Durch Vergleich und Extrahierung ihrer Ähnlichkeit verwandelt der Geist die unendlichen Erscheinungen der sinnlichen Welt in einfache Begriffe, wird er sich der widerspruchsvollen Natur des Universums bewusst.
Mit dem Bewusstsein, mit dem Wissen des Seins ist die Zweiteilung in Subjekt und Objekt, der Gegensatz zwischen Denken und Sein, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen gegeben. Die Denkkraft besorgt sowohl die Generalisierung des Besonderen wie die Unterscheidung des Allgemeinen. Der menschliche Intellekt ist jener Teil der Universalnatur, der die Fähigkeit und das Bedürfnis hat, sich ein Bild sowohl von allen anderen Teilen der Welt, als von deren Zusammenhang, vom Ganzen aller Teile zu machen. Das Wesen des Geistes ist also widerspruchsvoll, und gerade seine widerspruchsvolle Natur setzt ihn instand, ein Organ zur Erklärung aller Widersprüche zu sein, in allem Verschiedenen Einheit zu finden, alle Gegensätze zu vermitteln, dadurch, dass er den Widerspruch als die allgemeine, allbeherrschende Eigenschaft alles Seins erkennt, dass er erkennt, wie im Universum keine Dinge an und für sich, sondern nur Beziehungen bestehen, wie jedes Ding nur wirkt durch die Mitwirkung seines Gegensatzes.
1) Das Wesen der Kopfarbeit, 1907, S. 72.
2) Daselbst, S. 72.
3) Das Wesen der Kopfarbeit, 1907, S. 82.
4) Daselbst, S. 84.
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