[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 20. Jahrgang, Nr. 23, 15. August 1910, S. 353 f.]
Zu den abstoßendsten Erscheinungen des Massenmordes, der im Wesen des Kapitalismus begründet ist, gehört die Vernichtung kindlichen, jugendlichen Lebens, die dank der ausgebeuteten Frauenarbeit schon im Mutterleib beginnt. Der Schutz der arbeitenden Frau bildet daher innerhalb der Arbeiterschutzgesetzgebung ein eigenes wichtiges Kapitel. Der Zusammenfall von Erwerbstätigkeit und Mutterschaft bedingt bei der heutigen Form der Arbeit, die gleichbedeutend mit Ausbeutung ist, besondere Gefahren für die Frau und das nachwachsende Geschlecht, und der Schutz der Mutterschaft hat mithin weitgehende Bedeutung für die ganze Arbeiterklasse, ja die ganze Gesellschaft. Die Internationale Sozialistische Frauenkonferenz in Kopenhagen wird zu der Frage des Schutzes von Mutter und Kind Stellung nehmen. Schon die Konferenz der deutschen Genossinnen zu Mannheim 1906 hat dazu ein Programm der notwendigen Forderungen aufgestellt. In der Richtung dieser Forderungen liegen die Anträge, die die sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag bei verschiedenen Gelegenheiten, zuletzt wieder bei der Beratung der Reichsversicherungsordnung stellten.
Sie lassen erkennen, wie durchaus unzulänglich die Gesetzesvorschläge der Regierung zum Schutze der Schwangeren, Wöchnerinnen und Säuglinge sind. Dass die erwerbstätige Frau durch ihre Arbeit in stärkerem Maße gefährdet ist wie der Mann, und deshalb eines besonderen Schutzes bedarf, zeigen folgende Zahlen der neuen großen Statistik des Kaiserlichen Statistischen Amtes über Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse. Auf 100 ein Jahr lang beobachtete, gegen Krankheit versicherte Personen in dem Alter von 25 bis 34 Jahren entfielen Krankheitsfälle:
männlich | weiblich | |
Bei den Pflichtmitgliedern | 36,8 | 47,7 |
freiwilligen Mitgliedern | 71,8 | 67,3 |
Auf Seiten der freiwilligen Mitglieder, die der Ruhe pflegen können, ist die Zahl der Krankheitsfälle bei den Männern größer als bei den Frauen. Umgekehrt finden wir, dass bei den Pflichtmitgliedern, das heißt bei den erwerbstätigen Mitgliedern, die Zahl der Erkrankungen der Frauen die der Männer übertrifft. Fassen wir die Dauer der Krankheit ins Auge, so erweist auch diese die größere Gefährdung der erwerbstätigen Frau. Es entfielen auf einen Krankheitsfall Krankheitstage:
männlich | weiblich | |
Bei den Pflichtmitgliedern | 21,6 | 24,6 |
freiwilligen Mitgliedern | 36,5 | 36,4 |
Die erwerbstätige Frau ist länger krank als der erwerbstätige Mann, während bei den freiwilligen Mitgliedern sich das Verhältnis eher zugunsten der Frauen verschiebt. Dass im Allgemeinen bei den freiwilligen Mitgliedern die Krankheitsfälle zahlreicher sind und die Dauer der Krankheit eine längere ist als bei den Pflichtmitgliedern, erklärt sich aus einem Umstand: die freiwillige Mitgliedschaft wird vorwiegend nur von kränklichen Personen aufrechterhalten.
Die stärkere Belastung der arbeitenden Frauen durch Krankheiten erhellt auch aus folgender Übersicht, die zugleich deutlich darauf hinweist, dass der Zusammenfall von Berufstätigkeit und Mutterschaft die Ursache davon ist.
Altersklasse | Auf 100 versicherungspflichtige | Die männlichen Mitglieder haben mehr (+) weniger (-) | |
männliche | weibliche | ||
Mitglieder entfielen Krankheitstage | |||
unter 15 | 595 | 533 | + 62 |
15 bis 19 | 617 | 754 | -137 |
20 „ 24 | 657 | 955 | -298 |
25 „ 29 | 708 | 1205 | -497 |
30 „ 34 | 814 | 1395 | -581 |
35 „ 39 | 941 | 1465 | -524 |
40 „ 44 | 1088 | 1453 | -365 |
45 „ 49 | 1243 | 1496 | -253 |
50 „ 54 | 1256 | 1490 | -34 |
55 „ 59 | 1705 | 1486 | + 219 |
60 „ 64 | 2069 | 1632 | + 437 |
65 „ 69 | 2760 | 2373 | + 387 |
70 „ 74 | 3456 | 2531 | + 925 |
75 und mehr | 4043 | 2512 | + 1531 |
Diese Zahlen lassen scharf hervortreten, dass in dem Alter von 15 bis 54 Jahren die arbeitenden Frauen mehr Krankheiten ausgesetzt sind als die arbeitenden Männer, und dass dieser Unterschied zuungunsten des weiblichen Geschlechts am stärksten ist in dem mittleren Alter von 25 bis 44 Jahren, das heißt in der Periode, die am meisten für die Mutterschaft in Betracht kommt. Auch wenn wir die Dauer der Krankheit prüfen, stellt sich heraus, dass die arbeitenden Frauen in den Jahren der Mutterschaft im Durchschnitt länger krank sind als sonst. Denn während im Allgemeinen bei den Pflichtmitgliedern aus einen Krankheitsfall bei den Männern 21,6 Tage und 24,6 bei den Frauen kommen, ergibt sich in den Jahren von 25 bis 34 für die Männer eine Krankheitsdauer von 20,5 Tagen, bei den Frauen aber eine solche von 26,6 Tagen. Bei den Männern sinkt also die Dauer unter den allgemeinen Durchschnitt, bei den Frauen dagegen steigt sie darüber hinaus.
Den Einfluss der Erwerbstätigkeit auf die Mutterschaft selbst lassen die statistischen Ergebnisse der Leipziger Ortskrankenkasse erkennen. Es entfielen danach 15,5 Prozent Fehlgeburten auf die Wochenbetten der Pflichtmitglieder, das heißt der erwerbstätigen Frauen, die bis kurz vor der Entbindung weiterarbeiteten; es waren aber nur 2,8 Fehlgeburten zu verzeichnen auf die Wochenbetten der freiwilligen Mitglieder, die sich während der Schwangerschaft schonen konnten. Frühgeburten kamen bei den Pflichtmitgliedern 1,7 Prozent, bei den freiwilligen nur 0,3 Prozent vor. Die hohe Zahl der Fehlgeburten bei den Erwerbstätigen ist eine treffliche Beleuchtung der Vernunft einer Gesellschaftsordnung, die den einzelnen Fall der Abtreibung als schweres Verbrechen ahndet, im Interesse des Unternehmergewinns aber den Abortus als ständige und Massenerscheinung zulässt. Die schädigende Einwirkung der Erwerbsarbeit bis zum Eintritt der Geburt zeigt sich auch darin, dass die Pflichtmitglieder während des Wochenbettes durch anderweitige Krankheiten viel mehr befallen wurden als die freiwilligen Mitglieder. Die Arbeit während der Schwangerschaft mit ihren Anforderungen an den mütterlichen Organismus hat dessen Widerstandsfähigkeit vermindert.
Die eigentlichen Schwangerschaftskrankheiten zeigen deutlich, wie gefährlich es ist, wenn die Arbeit bis nahe zur Niederkunft fortgesetzt wird. Von den Pflichtmitgliedern wurden 5,5 Prozent, von den freiwilligen Mitgliedern nur 2,1 Prozent von solchen Leiden befallen. Was den besonderen Einfluss der Arbeitsweise auf die Mutterschaft betrifft, so lässt auch ihn die angezogene Statistik in Erscheinung treten. Sie verzeichnet eine sehr hohe Zahl von Fehl- und Frühgeburten bei den in der Heimindustrie tätigen Frauen. Besonders verhängnisvoll wird der Frauengesundheit und der Mutterschaft die Berufsarbeit der Metallpoliererinnen. Die Ursache liegt nach den Berichten der Fabrikinspektoren und anderen Zeugnissen in dem Treten der Poliermaschinen. Auch Tabak- und Fabrikarbeiterinnen sind als Frauen und Mütter besonders bedroht. Für sie kommt als schädigend nicht nur die schwere Arbeit in Betracht, sondern noch die Einwirkung von Giften, wie Nikotin, Blei usw.
Das vorstehende Ziffernmaterial ließe sich leicht vermehren und nach verschiedenen Richtungen hin ergänzen Es genügt jedoch zur scharfen Beleuchtung der Tatsache, dass die kapitalistische Profitgier vor der Gesundheit und Mutterschaft der Frau nicht Halt macht. Skrupellos tritt sie die Rücksicht darauf unter die Füße. Eine gefahrlose Vereinigung von Berufsarbeit und Mutterschaft ist erst möglich, wenn mit der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln die Arbeit von der Herrschaft des aussaugenden Kapitals befreit, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende gemacht wird. Aber es wäre verhängnisvoll, den profitlüsternen Kapitalismus bis zum Augenblick seiner Überwindung weiter mütterliches und kindliches Leben würgen zu lassen. Durchgreifende gesetzliche Vorschriften zum Schutze der Arbeiterinnen müssen ihm Schranken ziehen. Damit ist es aber nicht genug. Es ist vielmehr unabweisbar, dass diese Art gesellschaftlicher Fürsorge für Mutter und Kind ergänzt wird durch soziale Einrichtungen, welche beiden für die in Betracht kommende Zeit günstige Existenzbedingungen verbürgen. Den Proletarierinnen liegt an erster Stelle die Pflicht ob, für wirksamen Schutz der Mütter und Kinder unablässig zu wirken. Es bedeutet dies dem Heer des befreiungssehnsüchtigen Proletariats Kämpferinnen zu erhalten und zuzuführen, ihm ein nachwachsendes starkes Geschlecht von Kämpfern zu sichern.
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