Clara Zetkin: Arbeiterinnen, organisiert Euch!

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 15, 24. Juli 1895, S. 113 f.]

Nach den Berichten der Fabrikinspektoren waren im Deutschen Reiche 1893 in den inspektionspflichtigen Großbetrieben 616.620 erwachsene und 75.446 jugendliche Arbeiterinnen tätig. Binnen der zwölf Monate des Berichtsjahres hat die Zahl der ersteren um 40.187 zugenommen, die der letzteren ist um 2.211 gestiegen. In kleinindustriellen und handwerksmäßigen Betrieben gewinnt die Frauenarbeit stetig an Ausdehnung; sie spielt eine hervorragende Rolle in der verderblichen Hausindustrie, einzelne Zweige derselben beherrscht sie vollständig, wie sie einzelne Gebiete der Großindustrie vollständig beherrscht. Die Entwicklung der Produktionstechnik, die Profitwut der Kapitalistenklasse und als Dritte im Bunde die Not des Proletariats machen die Frauenarbeit zu einem immer wichtigeren Faktor des modernen Wirtschaftslebens. Stetig wächst die Zahl der Industriezweige, welche den weiblichen Arbeitskräften erschlossen werden; stetig vermehrt sich die Zahl der Frauen und Mädchen, welche als Lohnsklavinnen tätig sind. Nach Millionen beziffert sich die Menge der Proletarierinnen, welche in der Industrie, im Handelsgewerbe oder in der Landwirtschaft kapitalistischem Unternehmertum zinsen und fronden. Für Millionen proletarischer Frauen und Mädchen ist also eine der Hauptforderungen bürgerlicher Frauenrechtelei verwirklicht: die wirtschaftliche Gleichstellung der Frau mit dem Manne, ihre von diesem, von der Familie losgelöste selbständige wirtschaftliche Existenz auf Grund einer Berufstätigkeit.

Freilich spüren die rackernden und schanzenden Proletarierinnen gar wenig von den Segnungen dieses Fortschritts. Ihre wirtschaftliche Gleichstellung mit dem Manne bedeutet, dass sie die gleiche schonungslose, unmenschliche, oft mörderische Ausbeutung durch das Kapital erfahren, welche dem Manne ihrer Klasse zuteil wird. Ihre wirtschaftliche Verselbständigung der Familie gegenüber vermögen sie nur zu erkaufen um den Preis einer neuen, härteren Sklaverei, als wie sie ihnen in der Familie zuteil wurde oder wenigstens unter Umständen zuteil werden konnte: um den Preis der Abhängigkeit von dem Kapitalisten, d.h. der völligen Unterwerfung unter seinen Willen, seine Profitgier, schönrednerisch „die Notwendigkeiten des Betriebs“ oder auch „die Interessen, die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Industrie“ genannt. Die „selbständige“ Berufsarbeit lernen sie kennen unter der denkbar abschreckendsten Form: als Lohnarbeit, Lohnsklaverei.

Was können die Lohnsklavinnen empfinden von der Würde und Ehre der Arbeit, was von der Freude an der Arbeit und ihren Erzeugnissen, wenn die Not und die Antreiber ihrer kapitalistischen Herren sie vorwärts peitschen zu fieberhaftem Hasten, weil jede Minute Zeit Geld ist; wenn sie tagaus tagein in geisttötendem Einerlei hundertmal, tausendmal den gleichen Handgriff wiederholen müssen; wenn sie sich nicht mehr der Maschine bedienen, sondern der Maschine zu dienen gezwungen sind; wenn sie bei dem Produktionsprozess nur noch in Betracht kommen als lebendige Anhängsel des sausenden Räderwerks? Für sie ist die Arbeit kein Schaffen mehr, nur noch ein Schuften; kein fröhliches Wollen, ein bitteres Müssen; nicht die Voraussetzung ihrer Freiheit, die Vermittlerin ihrer Sklaverei; nicht der Grundstein, auf dem sich eine sorgenfreie, heitere, menschenwürdige Existenz aufbaut, vielmehr Ausbeutung und Auspressung auch der letzten Minute ihrer Zeit, auch des letzten Fünkchens ihrer Kraft.

Und der Lohn? Für Hunderttausende:

„.… Ein Wasserhumpen,

Eine Kruste Brot, ein Bett von Stroh,

Dort das morsche Dachund Lumpen.

Für Millionen und Abermillionen wenn auch nicht solch jammervolles Geschick, so doch eine Existenz, verdüstert durch schwere Sorgen um des Daseins Notdurft, ohne das heitere Blau edler Genüsse, ohne die belebende Wärme des Glücks, ohne das Leuchten einer höheren Kultur.

Wohl häufen sich in Läden und Vorratshäusern Reichtümer auf Reichtümer. Aber die Lohnsklavinnen, sie, welche die Fülle und Überfülle mit schufen, stehen mit leeren Händen, leeren Taschen, leerem Magen; sie darben! Wohl rauschen und sprudeln heutigen Tags die Quellen der Bildung reichlicher, klarer als je zuvor. Die Lohnsklavinnen jedoch, aus deren Schweiß und Blut sich die Vorbedingungen aller Kultur mit aufbauen, sie können sich an ihnen nicht laben. Den Geist, das Gemüt gequält von zehrender Sehnsucht nach einem Aufwärts ihres Menschentums, müssen sie im Dunkeln ihren dornenvollen Weg fürbass wandern, nicht bloß der Unwissenheit eine Beute, vielfach auch dem Verrohen, dem Verbrechen, der Schande.

Warum diese tagtägliche Kreuzigung der Lohnarbeiterin, warum diese qualvolle Hinmarterung ihres Menschentums?

Weil die Arbeiterin in einer Gesellschaft der Klassengegensätze zwischen Reichen und Armen lebt, und weil sie eine Proletarierin ist, im Lager derer steht, welche kraft der heutigen Wirtschafts- und Eigentumsordnung säen, ohne zu ernten. Sie kann nur leben, wenn sie arbeitet, und sie kann nur arbeiten, wenn sie ihre Arbeitskraft an einen Besitzer von Produktionsmitteln verkauft. Und viele Ihresgleichen – Männer, Frauen, Kinder – drängen sich auf den Arbeitsmarkt, ihr einziges Gut, ihre Arbeitskraft feilbietend; die Maschinen, die Fortschritte der Produktionsverfahren, machen die Menschenarbeit immer entbehrlicher, und die Not gebietet der Arbeiterin, ihre Ware sofort loszuschlagen. So erlangt der kapitalistische Unternehmer Gewalt über sie, die unumschränkte Gewalt des absoluten Herrschers, der erklärt: „Mein alles, was nutzbar an Dir ist! Mein die Stärke Deiner Muskeln, wie die Kraft Deiner Nerven! Mein auch Dein Weibtum, Dein Menschentum, falls Ich es will!“

Die Arbeiterin aber muss sich fügen. An ihr Ohr tönt das Klatschen der Hungerpeitsche, und hinter dem Kapitalisten steht der Geldsack, der seine Existenz sichert, auch wenn eine Zeit lang der Pulsschlag des Betriebes stockt. So wird die Arbeiterin der Ausbeutung überliefert, so muss sie sich darein schicken, dass die reichen Früchte ihres Mühens Eigentum des nicht säenden Unternehmers werden, und dass sie selbst dafür nicht mehr erhält als den landläufigen Marktpreis der Ware Arbeitskraft: Bettelpfennige für lange, anstrengende, ungesunde, ergiebige Anspannung ihrer Kraft.

Gewiss, auch dem Manne ihrer Klasse fällt das gleiche Los. Und doch ist die Arbeiterin noch schlimmer daran als er. Die Dürftigkeit des Verdienstes, die Härte und Vollständigkeit der Ausbeutung und Verknechtung reichen auf Seite des Arbeiters gewöhnlich bei Weitem nicht an das Arbeiterinnenelend heran. Die Arbeiterin ist eine Frau. Ihre Klassenlage als Proletarierin verquickt sich mit ihrer Geschlechtslage als Weib. Sie, die sozial zwiefach Schwache, ist sozial die zwiefach Geopferte. Ihre weibliche Bedürfnislosigkeit und Anspruchslosigkeit, ihr weibliches Gehorchen und Sich-fügen, ihre weibliche politische Rückständigkeit und Rechtlosigkeit, ihre weibliche Widerstandsunfähigkeit, ja sogar ihre mütterliche Liebe: alles Eigenschaften der Ware weibliche Arbeitskraft, welche das Kapital zu schätzen weiß, weil es sie auszubeuten, in reichsten Mehrwert umzuprägen vermag, alles Eigenschaften, welche die Arbeiterin das Opfer der rücksichtslosesten Ausbeutung werden lassen.

Ehern, wie das Schicksal der Alten, starren der Einzelnen diese Tatsachen entgegen. Sie mag mit Strömen von Tränen ihre Grundfesten zu erschüttern versuchen; sie mag sich gegen sie in stolzem Trotz aufbäumen; sie mag sich mit zäher Energie an ihnen die Hände wund rütteln: vergebens alles, solange sie eine Einzelne ist. An der wirtschaftlichen Übermacht der Kapitalisten, an dem starken Bau der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zerstieben gleich Wogenschaum die Anstrengungen der sozial doppelt schwachen Arbeiterin.

Nur eins ermöglicht ihr den Kampf aufzunehmen: die Organisation, welche ihr Macht und Wissen verleiht. Wie sich Sandkörnchen an Sandkörnchen zu Felsen fügen, wie sich Tropfen und Tropfen zu Meeren sammeln, so werden sozial Schwache mit sozial Schwachen, durch die gleichen Lebensinteressen zusammengehalten, durch den Druck der gemeinsamen Klassenlage zusammengeschweißt, in der Organisation zu einer sozialen Macht. Und diese Macht vermag es, sich im Kampfe mit dem ausbeutenden Kapitalisten zu messen, ihm Forderungen abzuringen, deren Verwirklichung er der einzelnen Arbeiterin hohnvoll verweigert. Je schwächer und widerstandsloser sich die einzelne Arbeiterin fühlt, je rücksichtsloser die Ausbeutung an ihrer Lebenskraft, ihrer Frauenwürde, ihrem Menschentum frevelt, um so dringender ist für sie die Notwendigkeit, sich der gewerkschaftlichen Organisation anzuschließen, ihre persönliche Ohnmacht durch deren Kraft auszugleichen.

Nicht dass die Macht der gewerkschaftlichen Organisation die Ketten sprengen kann, welche die Arbeiterin belasten. Wohl aber vermag sie dieselben zu lockern. Nicht dass sie im Stande wäre, die kapitalistische Gesellschaft fortzufegen und damit der Proletarierin ihre volle Befreiung zu bieten. Wohl aber räumt sie ihrem Befreiungskampfe zahlreiche Hindernisse vom Schlachtfelde, wohl reicht sie ihr in Gestalt besserer Arbeitsbedingungen die Wegzehrung, welche ihre Kraft für „die Schlacht am Birkenbaum“ stählt. Die gewerkschaftliche Organisation bedeutet für die Arbeiterin mehr Brot, mehr Zeit, mehr Freiheit, sie bedeutet für sie Erweckung des Solidaritätsgefühls und Schulung des Klassenbewusstseins und mit dem allem ein höheres Menschentum, eine höhere Kampfesfähigkeit für den Sturm von Klasse zu Klasse, der gewaltig einher braust und machtvoll Jahrtausende altes Unrecht auf den Kehrichthaufen der Geschichte fegt. Die Zeit ruft zum Kampf. Arbeiterinnen, organisiert Euch!


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