August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 859, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, I. Jahrgang, Nr. 44, 22. Oktober 1887, S. 7 f.]

Aus Norddeutschland, 19. Oktober. Obgleich nahezu zwei Wochen seit dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in St. Gallen verflossen sind, kommt die gegnerische Presse in der Besprechung desselben noch immer nicht zur Ruhe. Ein Zeichen der bösen Wirkung, welche derselbe in den weitesten Kreisen erzeugte. In einigen Zeitungen tritt die Überraschung, das die Partei eine solche Versammlung im Ausland, also mit Aufwand enormer Kosten, fertig brachte und ohne dass die Polizei trotz Wochen vorher erfolgter öffentlicher Ankündigung erfahren konnte, wo sie tagen werde, in der unverholensten Weise zu Tage. Bestürzt fragen sie sich was denn das Sozialistengesetz und der ganze gegen die Partei spielende ungeheure Polizei-Apparat nütze, wenn dergleichen möglich sei. Es sei unleugbar, die Partei sei stärker als je zuvor und das Gelingen des Parteitages müsse das Selbstgefühl der Parteigenossen aufs Höchste steigern. Das ist vollkommen richtig, dies ist den Gewalthabern seitens der sozialdemokratischen Abgeordneten von der Tribüne des Reichstages mehr als einmal ins Gesicht gesagt worden, aber die Konsequenz, das Ausnahmegesetz nunmehr aufzuheben, wagten nur Wenige zu ziehen. Man darf in der Tat auf die Auseinandersetzungen gespannt sein, welche bei der nächsten Verhandlung über die Verlängerung des Sozialistengesetzes im Reichstag sich abspielen werden. Der St. Gallener Parteitag wird in denselben eine große Bedeutung erlangen und die sozialdemokratischen Abgeordneten werden die ausgiebigste Gelegenheit haben, sich über die Bedeutung seiner Beschlüsse auszulassen. Einstweilen knuppert die Presse an denselben herum, wie ein hungriger Hund an einem hingeworfenen Knochen und die armen Redakteure zerbrechen sich die Köpfe, was sie aus denselben machen sollen. Für Leute, die richtig zu lesen und logisch zu denken beanspruchen, sollte der Sinn nicht zweifelhaft sein, denn die Beschlüsse sind klar und präzis und kaum einer mehrseitigen Deutung fähig. Aber gerade diese Klarheit passt gewissen Leuten nicht und ebenso wenig passt ihnen, das dieselben alle einstimmig oder mit an Einstimmigkeit grenzender Majorität angenommen wurden. Man hat seit Jahren von tiefen Spaltungen, von weit auseinandergehenden Grundanschauungen, die in der Partei bestehen sollten, gemunkelt, man rechnete bereits darauf, eines Tages eine offene Spaltung zwischen „Extremen“ und „Gemäßigten“ ausbrechen zu sehen und nun sollen alle diese schönen Hoffnungen hinfällig sein? Wer aus den unleugbaren Differenzen, die innerhalb der Führerschaft in gewissen taktischen und praktischen Fragen bestanden, hoffte, schließen zu können, das diese sich auch in die Masse der Partei übertragen und dort zu einer Spaltung führen könnten, hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht und kennt das Wesen der Sozialdemokratie schlecht.

In den Massen ist infolge ihrer ökonomischen Lage, in Folge des täglichen Kampfes mit der Unternehmerklasse das Gefühl des Klassenbewusstseins und des Klassengegensatzes zu so klaren Ausdruck gekommen, das es durch nichts sich beirren lässt. Vergäße die Führerschaft einen Augenblick, wessen Interessen sie zu vertreten hat und ließe sie sich zu Konzessionen verleiten, welche die Masse als ihr gleichgültig oder gar schädlich erkennte, die Führerschaft würde sehr rasch in der nachdrücklichsten Weise an ihre Pflicht erinnert werden. Dieser Geist unerbittlicher Prinzipientreue war es, der den Parteitag beherrschte und die Beschlüsse diktierte. Damit ist durchaus nicht gesagt, das nicht trotz alledem in einzelnen Fragen Meinungsverschiedenheiten auftauchen könnten oder auftauchen würden. Das ist aber durchaus kein Fehler. Meinungsdifferenzen sind für den Fortschritt jeder Partei eine absolute Notwendigkeit, sie sind auch nie zu verhüten, aber die Richtung muss gegeben sein, in welcher sie zur Ausgleichung zu bringen sind, und diese hat der Parteitag, so deutlich als möglich gegeben. Damit hat der Parteitag getan was er tun konnte. Jeder Einzelne weiß, woran er ist, und erblickt er in diesen Beschlüssen einen verhängnisvollen Irrtum oder Fehler, so weiß er was er zu tun hat, er verlässt die Reihen von Männern, mit denen er nicht harmonieren kann. Daraus wird ihm Niemand einen Vorwurf machen. Aber die Gegner werden vergeblich auf eine Ausscheidung warten und damit ist bewiesen, das alle ihre Spekulationen verfehlte waren.

Zwei Blätter, in entgegengesetzten Lagern stehend, sind es besonders, die sich mit den Beschlüssen des St. Galler Parteitages beschäftigten: dass Organ Bismarcks, „die Nordd. Allg. Zeitg.“, und die demokratische „Frankf. Ztg.“ Der Norddeutschen sind alle Beschlüsse mit Ausnahme des einen, welcher bei Stichwahlen Stimmenthaltung empfiehlt, weil sie davon für ihre Richtung einen Gewinn hofft, worin sie sich wohl täuschen wird, sehr unbequem. sie mäkelt rechts und mäkelt links und bescheidet sich schließlich mit dem Troste, die Erfahrung werde lehren, das es mit der .gerühmten Einigkeit der Partei und mit der gerühmten Befriedigung über den Verlauf des Parteitages kaum weit her sei. Auch wir warten ruhig ab, was die Zukunft bringt, überzeugt, das die „Nordd. Allg. Ztg.“ sich diesmal eben so in ihren Hoffnungen auf den Zerfall oder Rückgang der Sozialdemokratie täuschen wird, wie sie seit zehn Jahren mindestens zwanzig Mal sich darin bereits getäuscht hat.

Die „Frankf. Ztg.“ kritisiert die Beschlüsse des Parteitages über die parlamentarische Taktik und die Stimmenthaltung bei engeren Wahlen als doktrinäre, welche der Partei leicht ihren Anhang in den breiten Massen kosten könnten, denen mit doktrinären Beschlüssen nicht beizukommen sei. Auch hierüber beunruhigen wir uns nicht. Die breiten Massen sehen mit jedem Jahre mehr ein, was sie von den bürgerlichen Parteien nicht zu erwarten haben, ihnen wird eine Hoffnung nach der anderen genommen, alle schönen Versprechungen, welche jene machen, zerrinnen und nur Eines bleibt – die immer größer und drückender werdende soziale Not

Das weiß die Sozialdemokratie, die ihre Kraft aus den breiten Massen saugt, die täglich mit ihnen in innigster Berührung steht, besser als die bürgerlich demokratischen und sonstigen Doktrinäre, welche die Massen nach den oberen schichten beurteilen.

Das Eine ist sicher, das nie ein Kongress oder eine Versammlung von Parteivertretern so in den breiten Schichten der Partei- und Gesinnungsgenossen befriedigt hat, als der St. Galler Parteitag, dessen Tätigkeit die denkbar nachhaltigste Wirkung haben wird.

Einen sehr guten Eindruck macht in den deutschsozialistischen Kreisen, das die französischen Sozialisten, wie die im „Sozialdemokrat“ abgedruckte Begrüßungsadresse zeigt, nicht nur ihre volle Sympathie mit den Beschlüssen des St. Galler Parteitages, sondern auch ihr volles Einverständnis mit der Einberufung des internationalen Arbeiterkongresses für 1888 aussprechen. Letzteres ist um so wichtiger und anerkennenswerter, da die französischen Gesinnungsgenossen bereits beschlossen hatten, einen internationalen Kongress für 1889 anlässlich der Weltausstellung einzuberufen. Erklären sich auch die englischen Arbeiter mit dem Beschluss von St. Gallen einverstanden, dann. dürfte der internationale Kongress voraussichtlich den denkbar günstigsten Verlauf nehmen und beschickt werden, wie keiner zuvor.

Das neueste Ereignis im Parteileben der deutschen Sozialdemokraten sind die heute eingetroffenen Nachrichten über den Ausfall der sächsischen Landtagswahlen Das freigewordene Mandat Bebel’s im Leipziger Landkreis ist glänzend behauptet worden. Bebel siegte mit 3920 Stimmen über seinen kartellbrüderlichen Gegner, einen Fabrikanten Müller, der nur 2385 Stimmen auf sich vereinigte, trotz der verzweifelten Anstrengungen , welche die vereinigten Gegner machten, der Sozialdemokratie den Wahlkreis zu entreißen. Damit ist die Scharte vom 21. Februar, die nur durch Lug und Betrug und Angstmacherei der Partei zugefügt werden konnte, ausgewetzt. Der 18. Oktober, der Gedenktag der Schlacht bei Leipzig, den die Regierung mit naiver Schlauheit als Wahltag ansetzte, in der Hoffnung, das dieser Tag einen erneuerten Appell an die nationalen Vorurteile mit demselben Erfolg wie am 21. Februar ermögliche, ist zum zweiten Mal ein Tag der Niederlage für die sächsische Regierung geworden. Der 18. Oktober 1813 kostete der Krone der Wettiner durch ihr Festhalten an dem Bündnis mit Napoleon – das sich mit den Augen von heute angesehen, als Landesverrat qualifizieren würde – das halbe Land, das die rivalisierenden Hohenzollern in die Tasche steten. Diesmal erlitt sie eine innere Niederlage, wie sie ihr nicht unangenehmer sein konnte. Eine Lehre, künftig solch zweischneidige Kniffchen zu unterlassen. Aber auch mit dem Erfolg in den übrigen Wahlkreisen hat die Sozialdemokratie alle Ursache zufrieden zu sein. Zwar gelang es leider nicht, Liebknecht in den Landtag zu bringen, aber die Zahl der Stimmen, die er in mehreren Wahlkreisen erhielt, ist sehr bedeutend. so erhielt er im Lugauer Kohlenrevier, wo die Bergarbeiter ein großes Kontingent der Wähler stellen, 1683 Stimmen, sein Gegner 2321; in Dresden-Neustadt 1340 Stimmen, sein Gegner 2040; in einem Teil der Stadt Leipzig 1497 Stimmen, sein Gegner 3949. In fast allen Wahlkreisen stand die gesamte Gegnerschaft den sozialdemokratischen Kandidaten fest geschlossen gegenüber, alle Parteiunterschiede waren verschwunden, damit aufs Neue den Satz des sozialdemokratischen Parteiprogramms bekräftigend , das der Sozialdemokratie gegenüber alle übrigen Parteien eine reaktionäre Masse sind. In unserem nächsten Briefe werden wir nur noch einige spezielle Betrachtungen über den Verlauf und die Bedeutung der sächsischen Landtagswahlen folgen lassen.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert