Philosophie ist die Wissenschaft, welche sich die Erkenntnis des Intellekts oder die Erkenntnis der Methode, in welcher Art wir den Intellekt gebrauchen müssen, zum Zweck stellt. Beide Ausdrücke sagen im Grunde dasselbe: durch den ersten wird der Gegenstand der Philosophie als Ding, durch den zweiten wird er als Tätigkeit bezeichnet.1)
Die Philosophie strebt also nach Erkenntnis der Erkenntnis. Seit Menschengedenken, so weit unsere geschichtliche Erinnerung zurückgeht, hat sie um die Lösung dieses Problems gerungen. Ihre Geschichte beginnt in der Alten Welt mit dem Verfall der heidnischen Religion, so wie die neue Philosophie mit dem Verfall der christlichen Religion anfängt. Ihren Gipfelpunkt erreichte die griechische Philosophie mit Aristoteles. Er analysierte die Kenntnisse seiner Zeit und begründete die Wissenschaft der formalen Logik, das heißt die Methode, durch Schlussfolgerungen zur positiven Erkenntnis zu gelangen.2)
Durch das Aufkommen der christlichen Religion und mit dem Untergang der Alten Welt wurde die Entwicklung der Philosophie abgebrochen; das Mittelalter sah die Entartung der aristotelischen Lehren zu spitzfindiger Scholastik. Eine neue Periode hob dann in der Reformationszeit mit Bacon und Descartes an. Bacon war der erste, welcher einen neuen reellen Grund für die Erkenntnis suchte: die formale Logik des Aristoteles genügte der anbrechenden Epoche nicht mehr; es war notwendig für das neu aufkeimende Leben eine ihm entsprechende Logik zu schaffen, welche auf dem Zeitgeiste der Erfindung beruhte. Entgegengesetzt der bis dahin befolgten Methode der Spekulation versuchte Bacon die Forschung auf die Erfahrung zu gründen.3)
Radikaler und spezieller ergreift dann die Sache Descartes, der berühmte Verfasser des Werkes „Über die Methode“. Im Bemühen, sich von aller religiösen Voreingenommenheit zu befreien, erhebt er den radikalen Zweifel zum Ausgangspunkt aller Erkenntnis. Die einzig sichere Erkenntnis schien ihm die leibliche Empfindung seines eigenen Zweifels, das Gefühl des Gedankens, der ihm im Kopfe rumorte. Von diesem festen Punkt aus versuchte er auf dem Wege der Schlussfolgerung zu einer positiven, unzweifelhaften Kenntnis zu gelangen.4) Aus der Empfindung des profanen Daseins glaubte er ein höheres Dasein herleiten zu können. Aber er fiel wieder in den alten Irrtum, als er erwartete, durch logische Formalitäten unbedingte, absolute Wahrheiten zu finden. Um das Denken zu erforschen, isolierte er es übermäßig von den anderen Erscheinungen, von der Erfahrung. Auch er setzte noch hinter die Welt der Erfahrung und Erscheinung eine andere Welt, die der metaphysischen, überschnappten Wahrheit voraus, die er wissenschaftlich zu entdecken oder zu beweisen hoffte. Daher gelang es ihm nicht, sich von der religiösen Voreingenommenheit gänzlich zu emanzipieren.
Zur Anschauung der einen universalen absoluten Substanz gelangte dann Spinoza. Er zuerst fasste alle endlichen Dinge auf als Modi oder Erscheinungswesen des unendlichen Alls, die aus ihm auf- und in ihm wieder niedertauchen. Aber in der Weise, wie er sich Denken und Ausdehnung als zwei unendliche Attribute der absoluten Substanz vorstellte, lag noch eine gewisse Überschwänglichkeit. Er hielt das Materielle und Geistige noch unmäßig weit auseinander, er erkannte noch nicht, dass Denken und Ausdehnung nicht zwei gänzlich unverwandte Dinge sind, dass das Bewusstsein keine total andere Natur besitzt, wie die allgemeine Natur aller Dinge, dass es nicht mehr und nicht minder geheimnisvoll ist als jeder andere Stoff und jede andere Kraft.5)
Kant war der erste, welcher den Gebrauch der Vernunft auf die Welt der Erfahrung beschränkte. Ihm gebührt der Ruhm nachgewiesen zu haben, dass die Wahrheit ebenso empirisch ist wie der Kopf, mit dem wir ihr nachforschen, und dass unsere Sinne mit dem Intellekt und der gesamten Erscheinungswelt unzertrennlich zusammenhängen.6) Dies vollbracht zu haben, ist seine große Entdeckung, sein unsterbliches Verdienst. Jedoch – auch er erkannte die Universalität der Wahrheit, die Einheit der Welt, noch nicht. Er statuierte noch zwei Welten und zwei Wahrheiten ohne Einheit,7) eine der Erkenntnis zugängliche Welt der Sinne und eine höhere Welt, die über der phänomenalen thronte, oder sich hinter ihr verbarg, und wozu das menschliche Wissen nicht gelangen konnte. Der hergebrachte Glaube an die Überschwänglichkeit des Geistes verführte ihn, über dem Menschengeist und der gemeinen Wahrheit noch einen unbegreiflichen Monstergeist und eine fantastische Superwahrheit anzunehmen.8) Es gelang ihm noch nicht vollständig klarzustellen, dass die Vernunft ein Wesen ist, welches mit allen anderen Wesen in die allgemeine, allumfassende Kategorie des Natürlichen gehört. Über alle Erfahrung, alle sinnliche Erscheinung hinaus, glaubte er, gebe es eine geheimnisvolle Wahrheit, und nicht das Wissen, nur der Glaube erhebe sich zu ihr.
Dieser Trennung, welche dem Intellekt als sein Gebiet nur die Welt des oberflächlichen, flüchtigen Scheines, dem Glauben aber das absolut Unendliche und Wahre zuwies, widersetzte sich Hegel. Seine wissenschaftliche Großtat war es, die Selbstentwicklung des Universums als das allgemeine Prinzip des Lebens aufzuweisen, wie Darwin es später auf speziellem Gebiet für die Tierwelt tat. „Wie bei Darwin die Tierklassen ineinanderfließen, so fließen bei Hegel alle Klassen der Welt: Nichts und Etwas, Sein und Werden, Quantität und Qualität, Zeit und Ewigkeit, Bewusstes und Unbewusstes, Fortschritt und Bestand unvermeidlich ineinander. Er lehrt, dass Unterschiede überall bestehen, aber nirgends übertriebene, „metaphysische“ oder überschwängliche Unterschiede. Dinge, die wesentlich voneinander unterschieden sind, gibt es nach Hegel nicht. Das Unterscheiden zwischen wesentlich und unwesentlich ist nur auf relativer Stufenleiter zu verstehen. Es gibt nur ein absolutes Wesen, das ist der Kosmos, und alles, was drin und drum und dran hängt, sind flüssige, vergängliche, wandelbare Formen, Akzidenzien oder Eigenschaften des Generalwesens, welches in Hegelscher Sprache den Namen des Absoluten führt“.9)
Hegels kosmische Entwicklungstheorie gab der gesamten Wissenschaft und dem gesamten Menschenleben eine Anregung von eminentester Tragweite. Aber auch er hat die Entwicklungslehre nicht gelöst, nur sie mächtig gefördert. Es klebten seiner Lehre noch manche Dunkelheiten und Unbegreiflichkeiten an, die davon herrühren, dass Hegel sich selbst, das heißt die wesentliche Bedeutung seines Systems nicht durchaus verstanden hat.10) Hegel gehört zur idealistischen Richtung der Philosophie. Diese Richtung huldigte ursprünglich der religiösen Voraussetzung von der Erschaffung der Welt durch einen übernatürlichen Geist. Sie nahm das geistige Prinzip an als das Ursprüngliche, Eigentliche, die körperliche Welt als seinen Ausfluss, seine Schöpfung. Die extremen, konsequenten Anhänger des philosophischen Idealismus betrachteten den Intellekt als die einzige Realität und behaupteten, dass alles, was wir in der sinnlichen Welt wahrnehmen, nur Vorstellungen, subjektives Getriebe des Intellekts sei.11)
Trotz der „Verkehrtheit“ der idealistischen Weltanschauung besaß auch sie ein Körnchen Wahrheit, nämlich die Einsicht in die Tatsache, dass die objektiven Dinge nicht sind ohne unsere subjektiven Gefühle, dass beide zusammen unsere Welt ausmachen. In diesem Sinne hat sie, wenn auch in outrierter Weise, die moderne Sinnes-Physiologie vorgeahnt, welche lehrt, dass alle bunten Objekte, welche unsere Augen sehen, bunte Gesichtsempfindungen sind, und alles Grobe, Feine und Schwere, was wir fühlen, schwere, feine, grobe Gefühlsempfindungen sind.12) Dass zwischen unseren subjektiven Gefühlen und den objektiven Dingen keine absolute Grenze gezogen ist, dass es keine Gegenstände oder Objekte „an sich“ gibt, sondern nur in unserer Sinnenwelt, dass die Welt nur besteht als Verhältnis zwischen uns und der Sinnlichkeit: das war der berechtigte Kern des philosophischen Idealismus. Und so gebührt ihm das Verdienst, durch seine Handhabung der abstrakten allgemeinen Begriffe dem neuen dialektischen Materialismus vorgearbeitet zu haben, welcher den Gegensatz zwischen Materie und Begriff aufhebt durch seine Erkenntnis, dass beide Naturprodukte sind, die in die eine unbeschränkte Kategorie der natürlichen Welt gehören13).
Gegenüber der Überschwänglichkeit der idealistischen Philosophie erhob sich im 18. Jahrhundert der philosophische Materialismus, der seine Ausläufer als naturwissenschaftlicher Materialismus bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts schickt. Diese Richtung verfiel in die entgegengesetzte Verkehrtheit des Idealismus. Sie schwärmte für Materie ebenso einseitig, als die Idealisten für die Idee. Für sie war demnach alles Stoffliche, wozu sie in bornierter Weise nur das Wäg- und Tastbare rechneten, die Hauptsache der Welt, dagegen der Geist sowie alle anderen Naturkräfte nur untergeordnete, sekundäre Eigenschaften des tastbaren Stoffes. Die Materie allein galt ihnen als eigentliches, erhabenes Subjekt, alles andere als untergeordnetes Prädikat.14) Die materialistische Denkweise fasste den Gedanken auf als Produkt des Gehirns, so wie die Galle ein Produkt, eine Wirkung der Leber ist. Sie übersah die Differenz zwischen beiden Wirkungen, wovon die eine wäg- und tastbar,-die andere nichts Derartiges ist, sie übersah dabei die wichtige Tatsache, dass Leber wie Gehirn zusammenhängen mit dem Gesamtdasein und Wirkungen des gesamten Lebensprozesses sind. Der bürgerliche Materialismus war ebenso „metaphysisch“ als der Idealismus es war, ebenso beschränkt wie dieser, weil er, wie der Idealismus den Geist, so den Stoff zum alleinigen Träger aller Eigenschaften oder Erscheinungen machte, weil er übersah, dass die Materie im Universum ebenso sehr untergeordnet, ebenso sehr Prädikat ist, wie jedes andere besondere Ding. Diese Philosophie war sich nicht klar, dass die Stoffe im Weltprozess nicht mehr zu bedeuten haben als die Kräfte, und der Unterschied zwischen beiden nur ein relativer ist.
Der bürgerliche Materialismus war metaphysisch, d. h. er arbeitete ebenso wie der Idealismus in unvermittelten Gegensätzen, er setzte ebenfalls Erkenntnis und Materie so weit auseinander, dass er darüber ihren Zusammenhang vergaß.
Der dialektische proletarische Materialismus hat den Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus aufgehoben, indem er den Begriff der Materie oder Realität ausdehnte auf alle Stoffe und Kräfte, auf das ganze wirkliche Sein, das ganze Universum. Dieser neue Materialismus ist sich klar geworden, dass die Stoffe und Kräfte, das Hirn und seine Funktionen gleich reell und gleich wertvoll sind, dass Dinge nur im großen Universalzusammenhang existieren und wirken können. Er weiß, dass nicht nur Tastbarkeiten Dinge sind, sondern auch Sonnenstrahlen und Blumendüfte, Gedanken und Gefühle in dieselbe Kategorie gehören, dass es nur ein „Ding an sich“ gibt: Der Kosmos, das Universum, dessen Prädikate alle anderen Wesen sind.15)
So hat die Philosophie durch langes Irren den Weg zur Wahrheit gefunden: ihr Akquisit gipfelt in der Erkenntnis, dass der Intellekt mit allen anderen Dingen in ein und dieselbe Rubrik gehört, dass die Welt mannigfaltig. und die Mannigfaltigkeit eins ist in ihrem gemeinschaftlichen, weltlichen Naturell. Sie begreift das Seiende als das unendliche Material des Lebens und der Wissenschaft, das einzuteilen und wiederum einzuteilen der Weg ist, wodurch der Mensch sein Wissen und seine Macht über die Dinge vermehrt; aber gleichzeitig hat sie stets das Bewusstsein hinter sich, dass alle Klassifikation nur eine Formalität ist und alle Sonderheiten in der Weltwahrheit lebendig zusammenhängen.16) Diese Weltwahrheit aber ist die absolute universale Summe alles Daseins, sie umfasst alle Erscheinungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; Tod und Leben, Irrtum und Wahrheit gehören zu ihr. Der menschliche Geist kann sie nicht ausschöpfen, nicht gänzlich erfassen; denn er ist selbst ein Teil von ihr, und das Ganze lässt sich nicht vom Teil umfassen.
1) Das Akquisit der Philosophie, S. 42 (1903).
2) Daselbst, S. 88.
3) Daselbst, S. 89.
4) Das Akquisit der Philosophie, S. 89.
5) Streifzüge (Kl. philos. Schriften), S. 202 f.
6) Briefe über Logik, S. 150 (1903).
7) Daselbst, S. 150.
8)1) Briefe über Logik, S. 150 (1903).
9) Streifzüge a. a. O., S. 233 (Kl. philos. Schriften).
10) Daselbst, S. 227.
11) Streifzüge a. a. O., S. 206.
12) Kl. philos. Schriften, S. 121.
13) Daselbst, S. 121.
14) Streifzüge a. a. O., S. 208.
15) Das Akquisit der Philosophie, S. 49, und Streifzüge, S. 214/215.
16) Das Akquisit der Philosophie, S. 106.
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