Clara Zetkin: Reaktionäres Geschwister

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 10. Jahrgang, Nr. 15, 18. Juli 1900, S. 113 f.]

Die Weltpolitik der gepanzerten Faust, die Weltpolitik der goldenen Internationale des Kapitalismus beginnt in China ihre Früchte zu zeitigen. Mögen die Tendenznachrichten jener Blätter noch so übertrieben sein, welche in Berichten über die entsetzlichsten Gräuel schwelgen und flotten- und mordfroh zum furchtbarsten Rachekrieg hetzen; mag die fanatische und die Massen fanalisierende Sekte der Boxer in Auflehnung gegen die chinesische Regierung oder im geheimen Einverständnis mit ihr dem Vordringen fremdländischer Religion, fremdländischer Kultur und Barbarei ein Ziel setzen wollen: an dem Ernst und der geschichtlichen Bedeutung der Situation wird dadurch nichts geändert. Eine mächtige, von den breitesten Volksschichten getragene Bewegung hat sich im Reiche der himmlischen Mitte mit aller Energie dem weiteren Vorwärts der „weißen Teufel“ entgegengeworfen und ringt mit der Kraft der Verzweiflung, die Macht der Fremden zu brechen, ihren Einfluss zu verdrängen, China den Chinesen und ihrer alt eingewurzelten nationalen Kultur zu erhalten.

Es hat der Kampf begonnen nicht etwa um die Erschließung, vielmehr um die Aufteilung des letzten großen Gebiets, das der Kapitalismus seiner Ausbeutung und Herrschaft unterwerfen will. Darum auch lauert hinter der Aktion der vereinigten Mächte gegen China die Möglichkeit der schwersten Konflikte der Mächte untereinander, die Möglichkeit des Weltkriegs und des Weltkrachs. In schwatzschweifigen Phrasen, deren Sinnlosigkeit nur von ihrer Niedertracht und Rohheit übertroffen wird, suchen die bürgerlichen Blätter für den Krieg bald die Schreckenstat, bald jenes Unterfangen der Chinesen verantwortlich zu machen, die „barbarisch“ genug sind, ihre nationale Freiheit und Kultur verteidigen zu wollen, und „zivilisiert“ genug, die Treffsicherheit Kruppscher Mordwerkzeuge und die Vorzüglichkeit des Unterrichts deutscher Offiziere an deutschen Soldaten zu erproben. Mit der unvergleichlichen Unverfrorenheit dumm drauflos lügender Lakaien setzen sie die Wirkung an Stelle der Ursache. Der revolutionäre Kapitalismus hat in China seit Jahren den Boden für eine blutige Volkserhebung vorbereitet und eine Saat von Hass, Verachtung, Feindseligkeit gegen die Träger europäischer Kultur ausgestreut, die üppig in die Halme geschossen ist. In ungezügelter Profitgier hat er die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Landes umgewälzt und zersetzt; durch die Einführung moderner Erzeugnisse und Einrichtungen, durch den Bau von Eisenbahnen etc. ganze Schichten der Bevölkerung ihres Brotes beraubt, die religiösen, sittlichen, nationalen Überzeugungen gröblich verletzt. Es war ihm keineswegs darum zu tun, die Chinesen langsam und sicher von der Überlegenheit der modernen Kultur zu überzeugen, er wollte sie sich so rasch als möglich ausbeutungspflichtig unterwerfen. Was er begonnen, das hat die Politik des abenteuerlichen und gewalttätigen Evangeliumkurses schnell vollendet. Die Pachtungen und Eroberungen, das Gerede von der „Aufteilung“ Chinas, das diktatorische Auftreten der Mächte, die da wähnten, wie in einem eroberten Lande schalten und walten zu können: all das musste die glimmende Empörung zu helllodernden Flammen anblasen. Nichts törichter und ungerechter, als sich im Namen „aller Kulturgüter“ darüber zu entrüsten, dass der Kapitalismus dort Sturm erntet, wo er Wind gesäet hat.

Die Weltpolitik der Staaten, die gegenwärtig äußerlich noch einig zusammenstehen, um das Allerheiligste der bürgerlichen Weltordnung, den kapitalistischen Profit, gegen die gemeinsame Gefahr zu schützen, ist nicht auf Frieden, freiheitliche Entwicklung, Gleichberechtigung aller Nationen gerichtet, sondern auf Eroberung, Gewalt, Unterdrückung, Absperrung gegeneinander. Sinnenfällig beweist das eine Tatsache. Während man die Ermordung des deutschen Gesandten und die Niedermetzelung von Missionaren betriebsam mit dem Geschäftssinn erfahrener Händler ausschlachtet, um das Recht auf eine Rache zu begründen, „wie sie die Welt noch nicht gesehen hat“, überliefert man seelenruhig viele Tausende von Fremden der schwersten Bedrängnis, vielleicht dem Tode, indem man sich weigert, Japan das Mandat zur Wiederherstellung der Ordnung in China zu übertragen, d.h. ihm eine hervorragende Machtstellung und seinen Anteil an der Beute zu sichern.

Diese reaktionäre Weltpolitik der Eroberung und Abgrenzung von Machtgebieten der einzelnen kapitalistischen Staaten ist ein sicheres Anzeichen, dass die bürgerliche Gesellschaftsordnung sich auf dem absteigenden Aste ihrer Entwicklung bewegt, dass sie unfähig wird, die vom Kapitalismus entfesselten riesigen Produktivkräfte zu leiten und zu höherer Entfaltung zu führen. Sie geht deshalb Hand in Hand mit einer ebenso reaktionären Sozialpolitik, mit der sie im innigsten ursächlichen Zusammenhang steht. Das wahnwitzige Vorwärts, Volldampf voraus, einer fantastischen Weltpolitik der Eroberung „von Plätzen an der Sonne“, der erträumten Weltreichsgründungen und das erbärmliche Rückwärts der Sozialpolitik des Zuchthauskurses, der Brot – und Fleischverteuerung, der reformlerischen Unfruchtbarkeit, sind rechtmäßige Geschwister.

Die in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung enthaltenen Gegensätze haben sich ausgewachsen und drängen zur Lösung. Dafür spricht die chronische Überproduktion; dafür spricht der sich immer schärfer zuspitzende proletarische Klassenkampf. Die bürgerliche Welt und ihr Staat weiß aber auf das Drängen und Ringen der Arbeiterklasse nach einem Aufwärts zur Kultur nur eine Antwort: Niederbüttelung, Unterwerfung der arbeitenden Klasse unter die Ausbeutung und Herrschaft der Kapitalistenklasse. Diese Politik der gepanzerten Faust statt der offenen Hand gegen das Proletariat muss zwei Folgen zeitigen. Je härter, rücksichtsloser die Besitzenden die Besitzlosen unter der Fuchtel halten, je weniger sie ihnen durch eine vernünftige Sozialpolitik einen Anteil an Wohlstand und Kultur sichern, einen um so gewaltigeren Umfang muss die Überproduktion annehmen, die im Wesen des Kapitalismus, in seinem Ausdehnungsbedürfnis begründet ist. Je mehr die kapitalistische Übermacht bestrebt ist, die Proletarier auf das Niveau lebendiger Arbeitsmaschinen herabzudrücken, ihnen die Entwicklung ihres Menschentums vorzuenthalten, um so leistungsunfähiger muss die Arbeiterklasse werden, um so mehr muss die Industrie der Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt ermangeln. Derweilen im Lande viele Zehntausende der Volksgenossen ihre Lebensbedürfnisse nicht in einer Weise zu befriedigen vermögen, welche dem Stande der Kultur entspricht, gilt es nun für die herrschende Kapitalistenklasse, nicht bloß einen ausländischen Markt für die überschüssigen Erzeugnisse zu suchen, welche die Arbeiter zum größten Teile wohl verbrauchen, jedoch nicht bezahlen könnten, sondern zugleich einen Markt, der gegen die Konkurrenz der Kapitalisten anderer Nationen abgesperrt ist. So muss die Sozialpolitik der gepanzerten Faust gegen die Arbeiterklasse zur Weltpolitik der gepanzerten Faust gegenüber dem Auslande führen. Die Kosten der Einen wie der Anderen aber trägt die arbeitende Masse.

Interesse und Pflicht gebieten deshalb den Proletarierinnen, mit aller Energie das reaktionäre Geschwister zu bekämpfen: die Weltpolitik der Eroberung und Gewalt nach außen, die Sozialpolitik der Gewalt und Unterdrückung nach innen. Mit dem gesamten Proletariat zusammen kämpfen sie um hohen Preis: nicht bloß um die nötige Reform der Gegenwartspolitik, sondern um Höheres, um die sozialistische Gesellschaft, die allein ihnen die volle Befreiung bringt.


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