Clara Zetkin: Neues Jahr, neue Kämpfe, neue Siege

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 1, 9. Januar 1895, S. 1 f.]

Unter ernsten, bedeutungsreichen Anzeichen ist das alte Jahr zu Ende gegangen, das neue aus der Zeiten Schoß emporgestiegen. Und diese Anzeichen reden sämtlich laut, eindringlich die nämliche Sprache: sie künden das Ende einer alten Welt, das Nahen einer neuen Zeit.

In allen sogenannten Kulturländern ist der Kampf von Klasse zu Klasse, das Ringen zwischen frondender Arbeit und ausbeutendem Kapital bewusster und damit heißer, erbitterter geworden. Je energischer die Arbeiter und Arbeiterinnen ihren Willen bekundeten, aus Lohnsklaven des Heute zu Zukunftsfreien zu werden; je zielbewusster sie den Weg beschritten, der zu ihrer Befreiung führt, und je augenscheinlicher die Auslösung der bürgerlichen Ordnung und die geistige, sittliche, politische Altersschwäche der herrschenden Klasse wurde, um so prahlerischer und Rettung heischender schlagen diese an das Schwert der staatlichen Machtmittel, das noch in ihren Händen ruht. Unfähig, die organische Entwicklung der sozialen Verhältnisse über eine Form hinaus zu begreifen, welche für sie die heutige Gesellschaft zur „besten aller Welten“ gestaltet, suchen sie diese organische Entwicklung zu hemmen. Und kraft ihrer Klasseninteressen, welche eine entsprechende Klassenblindheit zeugen, sind die herrschenden Klassen gleichsam geschichtlich gezwungen, aus der Zeiten Lauf nichts zu lernen und nichts zu vergessen. Die Verständnislosigkeit gegenüber den großen Tagesproblemen ist seitens geschichtlich gerichteter Klassen gleich groß, wie seitens geschichtlich verurteilter Dynastien.

Kämpfe über Kämpfe, die Geburtswehen der neuen Zeit, erwarten deshalb das Proletariat in nächster Zukunft, und nicht zum mindesten gerade in Deutschland, wo die Arbeiterklasse mit mächtigen Schritten vorwärts eilt, dem Ziele zu, während die Besitzenden und Herrschenden am liebsten in das Gestern und Ehegestern zurück flüchten möchten. Schon hat die jüngste Vergangenheit einen Vorgeschmack gegeben von dem, was die nächste Zukunft bringen wird.

Protziger als je missbraucht das Unternehmertum seine wirtschaftliche Macht über Arbeiter und Arbeiterinnen zu ihrer völligen Unterjochung. Ohne Rücksicht auf ihr Menschentum kürzt es ihre Löhne auf ein Hungerminimum, sucht es die Zeit ihrer Fronarbeit zu verlängern, ihre Arbeitsleistung zu erhöhen. Es ächtet die gewerkschaftlich organisierten und politisch aufgeklärten Arbeitskräfte und strebt danach, die wirtschaftlichen Kampforganisationen des Proletariats zu zertrümmern, seine politische klassenbewusste Betätigung mit List und Gewalt zu hintertreiben.

Schneidiger, brutaler als seit Langem bringt die Polizei die ganze Machtfülle der ihr zu Gebote stehenden Mittel zur Anwendung gegen das sich rüstende und kämpfende Proletariat. Mit einer Pflichttreue, welche ihr die Besitzenden Dank wissen, ist sie auf dem Plan, sobald es sich darum handelt, die Ordnung zu schützen, welche den Nichtbesitzenden „heilig“ sein soll, weil sie den Besitzenden „segensreich“ ist.

Scharfsinniger als zu irgend einer Zeit erkennen unsere Herren Richter den wahren Geist, die Absicht, die Aufgabe der Gesetze – in einem Klassenstaat. Mit unvergleichlicher Kunstfertigkeit schälen sie aus dem dichtesten Wust des gräulichsten Deutsch die feinsten, salomonischen Urteilssprüche heraus, und dass diese meist den Kämpfern für Volksbefreiung und Volksglück nicht günstig lauten, je nun, das ist deren besonderes Pech und geschieht „von Rechts wegen“.

Trotz alledem aber fühlen sich die Nutznießer der heutigen Gesellschaftsordnung nicht sicher in ihrem Besitz. Der Boden schwankt unter ihren Füßen, in ihr Ohr tönt „der Massenschritt der Arbeiterbataillone“, die zur Eroberung ihrer Zukunft ausziehen, Zoll um Zoll wird ihren Händen die politische Macht entrissen und verwandelt sich im Besitze des Proletariats aus einem Werkzeug der Unterdrückung in einen Hebel der Befreiung. Daher die Versuche, durch die deutungsreichsten Kautschukparagraphen das deutsche kämpfende Proletariat von Juristerei und Büttelei innig gesellt knebeln zu lassen. Wie deutlich offenbart sich nicht in diesen Liebesmühen die schlotternde Angst der herrschenden Klassen von Geldsacksgnaden und das ihnen aufdämmernde Bewusstsein ihres politischen Bankrotts!

Im Gefühl ihrer Ohnmacht gegenüber einer großen geschichtlichen Bewegung tritt die Kapitalistenklasse in das neue Jahr ein. Weder der Champagnerschaum, noch das Bibelbuch oder das Säbelrasseln vermag sie über dieses Gefühl hinwegzutäuschen. Das Proletariat dagegen überschreitet die Schwelle der Silvesternacht in der festen Überzeugung seiner Macht und geleitet von der klaren Erkenntnis seiner geschichtlichen Mission und seines endlichen Siegs. Seine freudige Zuversicht in die Zukunft kann Kettenklirren und das Sausen der Hungerpeitsche, kann politische Ächtung und schwarzes Elend nicht schwächen oder gar erlöschen.

Mögen deshalb die Besitzenden und Herrschenden 1895 fort wursteln, wie sie 1894 begonnen: nach den längst überlebten Metternichschen Rezepten und mit dem Segen des längst überlebten Alten im Sachsenwald. Das deutsche Proletariat fürchtet nicht die Kämpfe, die ihm in der Folge bevorstehen. Wenn es sich auch nicht verhehlt, dass sie Opfer kosten werden, schwere Opfer, so weiß es auch, dass sie mit Siegen enden, mit sicheren, geschichtlich verbürgten Siegen. Rastlos, unaufhaltsam arbeitet der Gang der wirtschaftlichen Entwicklung an der Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und dem Emporwachsen des sozialistischen „Zukunftsstaats“. Und mit der Kelle in der einen Hand, dem Schwert in der anderen geht das Proletariat seinem historischen Tagwerk nach, hier und nun ein liebevoller, sorgsamer, gewissenhafter Arbeiter am Bau der Zukunft, dort und jetzt ein energischer, unerschrockener Streiter, der den Kampf nicht scheut, weil er weiß, dass ihm hoher Preis winkt, dass er selbst es ist,

„- – – – von dem zum Siegesfest

Über den tosenden Strom der Zeit

Der Heiland Geist sich tragen lässt.“


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