Lynn Walsh: Atomare Bedrohung? Krieg weckt neue Ängste

(eigene Übersetzung des englischen Textes in The Socialist, Nr. 225, 12. Oktober 2001)

„Was wird jetzt passieren?“ Als Bush nach dem 11. September den „uneingeschränkten Krieg“ erklärte, stellten sich viele Menschen beängstigende Fragen. Wird es zu einem Weltkrieg kommen? Könnte es einen Atomkrieg bedeuten?

Lynn Walsh

Einige konnten nicht umhin, sich hinter den schrecklichen Wolken, die aus den Trümmern der New Yorker Zwillingstürme aufstiegen, an die Atompilze von Hiroshima und Nagasaki zu erinnern.

Der schreckliche Terroranschlag und die bevorstehenden Gegenmaßnahmen der USA werden eine internationale Kettenreaktion von Konflikten und Umwälzungen auslösen. Dies fällt mit dem zusammen, was wahrscheinlich der schlimmste Wirtschaftseinbruch seit der großen Depression in den 1930er Jahren sein wird.

Bewaffnete Konflikte und regionale Kriege werden jetzt viel wahrscheinlicher auflodern, was auch immer die von der von den USA und ihren Verbündeten gewählten Strategie ist. Wenn es riesige Atomwaffenarsenale gibt und eine Verbreitung von Atomwaffen stattfindet, erzeugt dies unweigerlich Alarm und Furcht.

Die USA und Russland verfügen trotz des Endes des „Kalten Krieges“ immer noch über Atomwaffenarsenale mit vielen tausend Sprengköpfen. Großbritannien, Frankreich und China, die anderen Mitglieder des etablierten „Atomclubs“, verfügen jeweils über Hunderte von Atomwaffen. Mehrere andere Staaten, einschließlich Israel, haben heimlich Atomwaffen entwickelt.

Im Kontrast dazu haben sowohl Indien als auch Pakistan 1998 fünf Testzündungen von Atomsprengköpfen für Kurz- und Mittelstreckenraketen durchgeführt. Jeder wollte mit seinen Tests einen unheilvollen Propagandaschlag gegen den anderen führen. Nun befinden sich diese beiden Rivalen, die bereits in drei Kriegen aufeinander getroffen sind, im asiatischen Epizentrum des kommenden Konflikts.

Wären die Herrschenden Indiens oder Pakistans verrückt genug, taktische Atomwaffen einzusetzen? Jede solche Aktion wäre selbstmörderisch. Das US-Gesundheitsministerium schätzt, dass ein atomarer Konflikt zwischen den beiden Staaten den Tod von mindestens 50 Millionen Menschen zur Folge hätte, wobei die Zahl der Opfer noch weitaus höher wäre.

Große Teile des Subkontinents würden verwüstet und dauerhaft verseucht. Die USA üben intensiven Druck auf Indien und Pakistan aus, damit sie ihr Atomwaffenprogramm aufgeben: Die großen Mächte wollen den Atomclub exklusiv halten. Eine Zeit lang verhängten die USA Wirtschaftssanktionen gegen die beiden „Emporkömmlinge“, aber mit wenig Wirkung.

Doch in jedem größeren bewaffneten Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg – Korea, Vietnam, Golfkrieg 1990/91 – forderten einige US-Generäle, den Einsatz der ultimativen Waffe – taktische Atomraketen – in Betracht zu ziehen. Glücklicherweise wurden sie immer von den führenden Vertreter*innen der herrschenden Klasse der USA überstimmt.

Die Vertreter*innen der Großkonzerne erkannten, dass die weitreichenden Folgen eines Atomschlags jeden vermeintlichen Vorteil auf dem Schlachtfeld bei weitem überwiegen würden. Es würde weltweite Massenproteste gegen den Einsatz solch barbarischer Waffen geben, auch innerhalb der USA, die jede in das Atomverbrechen verwickelte Regierung zu Fall bringen könnten.

Die „MAD“-Politik

Gleichzeitig wurden die USA durch die Drohung mit atomaren Vergeltungsmaßnahmen zurückgehalten. Wenn sie Atomwaffen in einer Region mit Supermacht-Rivalität, wie z.B. Vietnam, eingesetzt hätten, hätte die Gefahr bestanden, dass die Sowjetunion zurückschlägt. Schlag und Gegenschlag könnten zu einer globalen Zerstörung führen, lange bevor das gesamte Arsenal zum Einsatz käme. In Wirklichkeit gab es eine MAD-Situation – eine Situation der Mutually Assured Destruction [der gegenseitig gesicherten Zerstörung].

Von 1945 bis zum Fall der Sowjetunion 1989/90 gab es also ein relativ stabiles Gleichgewicht zwischen zwei rivalisierenden Atomlagern. Der westliche Block wurde vom US-Kapitalismus dominiert, der östliche von der Sowjetunion, einer nichtkapitalistischen Planwirtschaft, die von einer totalitären Bürokratie beherrscht wurde. Die führenden Politiker*innen beider Seiten verstanden, dass der Einsatz von Atomwaffen selbstmörderisch wäre: Sie waren praktisch unbrauchbar.

Das hielt beide Lager nicht davon ab, immer ausgefeiltere – und grotesk zerstörerische – Waffen zu entwickeln: Bomben, Granaten, Sprengköpfe und immer teuflischere „Trägersysteme“, d.h. Raketen.

Die profitgierigen Waffenhersteller*innen haben ein eigenes Interesse daran, das Wettrüsten fortzusetzen.

Die Verschwendung von Ressourcen war phänomenal: Geld, Technologie und vor allem die Creme der Wissenschaftler*innen, Ingenieur*innen und Facharbeiter*innen. Hätte man sie doch nur dazu verwendet, Armut und Krankheit zu beseitigen und den Menschen überall eine gute Ausbildung zu ermöglichen! Der durch die atomare Konkurrenz verursachte Mittelabfluss war ein Faktor für den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Sowjetunion.

Warum werden Waffen produziert, die praktisch unbrauchbar sind? Seit der Erfindung von Atomwaffen ist ihr Besitz der ultimative Maßstab für die Macht – oder potenzielle Macht – eines Staates.

Die herrschende Kapitalist*innenklasse hat sich mit ihrem (durch Besteuerung der Bevölkerung finanzierten) Staatsapparat immer bewaffnet, um ihre Interessen zu verteidigen. Das bedeutet nicht die Sicherheit und das Wohlergehen der Bevölkerung, sondern den Reichtum und die Macht der herrschenden Klasse, ihr Territorium und ihre Einflusssphäre.

Atomwaffen sind die ultimative Waffe, also häufen die kapitalistischen Mächte Atomwaffen an. Jede der führenden Mächte hat genug, um die Menschheit mehrmals auszulöschen, aber das Anhäufen geht weiter und weiter.

Wenn Bush das Nationale Raketenabwehrsystem (den Sohn von Reagans „Star Wars“) durchsetzt, wird es dem atomaren Wettlauf eine weitere Drehung geben. Russland, China und andere werden neue Raketen einsetzen, um den Schutzschild der USA zu durchdringen.

Ein gewisses Außerdienststellen älterer Waffen hat stattgefunden. Aber dies schafft neue Probleme. Die USA und Russland verfügen zusammen über 100 Tonnen waffenfähiges Plutonium, das nicht mehr benötigt wird. Das meiste davon wird in Plutoniumoxid (MOX)-Brennstoff für stromerzeugende Reaktoren umgewandelt, wodurch die gefährliche „Plutoniumwirtschaft“ fortgesetzt wird.

Der Rest wird in Glas eingeschlossen und unter Verwendung noch nicht erprobten Techniken vergraben. Die Kosten werden enorm sein, mindestens 6 Milliarden Dollar über die nächsten 25 Jahre. Überschüssige Bestände in Russland und in der Ukraine stellen eine weitere schreckliche Bedrohung dar: Atomterrorismus. Jahrelange laxe Bestandsaufnahme bedeutet, dass die genauen Mengen und Standorte des ausgemusterten Plutoniums ungewiss sind.

Könnten Mafiagangster*innen mit dem radioaktiven Material handeln, das für den Bau einer „Kofferbombe“ benötigt wird? Es ist nicht sicher, dass eine solche tragbare Waffe technisch machbar ist, aber sie könnte es werden – eine erschreckende Aussicht.

Wenn sich die großen Mächte auf ihr atomares Potenzial stützen, werden kleinere Mächte, die nach regionaler Vorherrschaft streben, unweigerlich danach streben, ihre eigenen Atomwaffen zu erlangen. Einige haben dies bereits heimlich getan, wie Israel und möglicherweise Irak, Saudi-Arabien und Nordkorea.

Andere, wie Indien und Pakistan, haben unverhohlen die Atomwaffentrommel gerührt, trotz der Massenarmut und dem Hunger, unter dem Millionen von Menschen in diesen Ländern leiden. Ihre politischen Regime sind instabil.

Sowohl die hindunationalistische BJP-Regierung Indiens als auch die Regierung der Muslimliga in Pakistan (die inzwischen von der Militärdiktatur Musharrafs abgelöst wurde) haben Atomdemonstrationen inszeniert, um ihr Ansehen im Ausland zu steigern und ihre wackelige Wähler*innenbasis im Inland zu festigen. Sie sind bereits Länder in der Krise, und die US-Intervention in Afghanistan kann die Dinge nur schlimmer machen.

Was, wenn ihre führenden Vertreter*innen, die verzweifelt versuchen, die Aufmerksamkeit von ihren unerträglichen innenpolitischen Problemen abzulenken, einen weiteren regionalen Krieg provozieren? Könnten sie trotz der selbstzerstörerischen, völkermörderischen Folgen zu einem Atomschlag greifen?

Die USA und die anderen großen Atommächte fürchten sicherlich ein solches Szenario und werden ihren ganzen Einfluss verwenden, um eine katastrophale Einzelgänger-Aktion zu verhindern. Selbst für die unausgeglichensten Regime wären Atomwaffen das letzte Mittel. Dennoch kann, solange das verrottete Gesellschaftssystem, das militaristische Führer*innen hervorbringt, nicht völlig verändert wird, die Möglichkeit eines Atomkonflikts nicht völlig ausgeschlossen werden.

Vergiftetes Erbe

Wir sind für die Abschaffung aller Atomwaffen und lehnen es ab, dass weitere Staaten Atomwaffen erwerben. Appelle an die Vernunft oder die Menschlichkeit werden jedoch keine Wirkung auf die herrschenden Eliten haben.

Das einzige, was das Wachstum und die Verbreitung von Atomwaffen eindämmen kann, ist der Druck der Massenbewegungen von Arbeiter*innen, Jugendlichen, Kleinbäuer*innen und Besitzlosen – derjenigen, die die Kosten des atomaren Albtraums tragen.

Die vulkanischen Ereignisse der nächsten Jahre werden solche Bewegungen auslösen. Ihr Ziel muss sein, die Klassenausbeutung abzuschaffen, die letztlich den Kampf um Macht und Profit antreibt – und immer wieder zu Krieg führt. Wenn wir uns von den Bossen der Großkonzerne und den feudalen Ausbeuter*innen befreien, werden wir uns auch ihrer militärischen Vollstrecker entledigen, nicht vorher.

Mit den Ressourcen einer demokratisch geplanten, sozialistischen Wirtschaft werden wir fähig sein, das Problem der sicheren Entsorgung von unerwünschtem Plutonium, dem giftigen Erbe des atomaren Wettrüstens, in Angriff zu nehmen.


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