[„Kievskaya Mysl“ No 168, 21. Juni/4. Juli 1914. Eigene Übersetzung nach dem Nachdruck in Политические силуэты {Polititscheskije Siluety}]
Im Juni 1903 erhielt Samokowljew vom Sibirischen Bund ein Mandat für den Parteitag der Sozialdemokratischen Partei. Dieser nach der Zählung zweite Parteitag war in beträchtlichem Maße der Gründungsparteitag, denn der erste, 1898 in Minsk zusammengetretene Parteitag hinterließ keine organisatorischen Resultate: Am 10. März folgte ein gesamtrussischer „Rückschlag“, welcher die zentrale Organisation für lange Zeit liquidierte.
Der Ideenkampf zwischen „Ökonomisten“ und „Politikern“ endete unter der Führung der „Iskra“ mit dem Sieg der Politiker, und der zweite Parteitag, fünf Jahre nach dem ersten, sollte den Sieg der „Iskristen“ „festigen“ und den zentralen Apparat der Partei wiederherstellen. Samokowljew reiste zusammen mit dem Delegierten aus Tula nicht von Genf aus an, um keine „Schwänze“ [Beschatter] aufzusammeln, sondern von der folgenden kleinen und stillen Station Nion, wo der Zug nur eine halbe Minute steht. Als gute russische Provinzler warteten sie auf der falschen Seite auf den Zug, und als der Expresszug einfuhr, konnten sie nicht in den Waggon einsteigen, da der Bahnsteig auf ihrer Seite durch ein eisernes Gitter geschützt war. Nachdem sie ein paar Worte gewechselt hatten, beschlossen die Delegierten, auf der Seite des Puffers einzusteigen. Bevor sie jedoch den Bahnsteig betreten konnten, setzte sich der Zug in Bewegung. Der Bahnhofsvorsteher sah die beiden jungen Passagiere oberhalb des Puffers und stieß einen Alarm-Pfiff aus. Der Zug hielt sofort an, so dass die Delegierten, der sibirische und der aus Tula, gerettet waren. Der Oberschaffner kam sofort zu ihnen, nachdem sie es in den Waggon geschafft hatten, und gab ihnen zu verstehen, dass er noch nie in seinem Leben so dumme Subjekte gesehen habe und dass sie für das Anhalten des Zuges mit je 50 Franken zur Kasse gebeten würden. Die Delegierten ihrerseits gaben ihm zu verstehen, dass sie kein Wort Französisch könnten. Das war zwar durchaus nicht wahr, aber es war zweckmäßig: Nachdem er sie noch drei Minuten lang angeschrien hatte, ließ der dicke Schweizer sie in Ruhe. Erst später, bei der Kontrolle der Fahrkarten, teilte er den anderen Passagieren erneut seine wenig schmeichelhafte Meinung über diese beiden leicht bekleideten Herren mit, die vom Puffer entfernt werden mussten.
Die Delegierten trafen durchaus wohlbehalten in Brüssel ein, und die Sitzungen des Parteitages wurden dort in einem abgelegenen Raum über dem Lager der Arbeitergenossenschaft im Maison du peuple (Volkshaus) eröffnet. Schon in den ersten Tagen bemerkten Delegierte, dass sie „verfolgt“ wurden. Samokowljew – man muss im Übrigen sagen, dass dieser Name nicht dem sibirischen Delegierten gegeben wurde, sondern irgendeinem ihm unbekannten Bulgaren, mit dessen Pass er sich in Brüssel niedergelassen hatte – Samokowljew speiste im Restaurant des „Goldenen Fasans“, wo ein Teil der Delegierten gewöhnlich bis weit nach Mitternacht blieben. Der Parteitag dauerte ohne Ende. In der zweiten Woche verließ Samokowljew zusammen mit Wera Iwanowna Sassulitsch spät in der Nacht den „Fasan“; der Odessaer Delegierte S. kreuzte ihre Bahn, der im Vorbeigehen zischte: „hinter Ihnen ist ein Spitzel, trennen Sie sich in verschiedene Richtungen, der Spitzel wird dem Mann hinterhergehen“ – und drehte sich um. S. war ein großer Experte auf dem Gebiet der Schnüffler und hatte ein Auge wie ein astronomisches Instrument für die Sache. Er wohnte hier, in der Nähe des „Fasan“, im oberen Stockwerk und hatte sein Fenster in einen Beobachtungsposten verwandelt.
Samokowljew verabschiedete sich von Wera Iwanowna und ging geradeaus weiter. In seiner Tasche hatte er den bulgarischen Pass und fünf Francs. Der Schnüffler, ein großer, hagerer Flame mit einer langen Nase, ging hinter ihm her. Es war schon nach Mitternacht, und die Straße war vollkommen leer. Der Delegierte ging schnell den Boulevard hinunter, der Schnüffler folgt ihm in einer Entfernung von 10 Schritten, als wäre er ein Gepäckträger. So gingen sie zehn Minuten. Plötzlich bleibt der Delegierte an einem Baum stehen. Auch der „Gepäckträger“ hielt an, nachdem er fast mit voller Geschwindigkeit in ihn hineingelaufen war. Sie standen etwa drei oder vier Minuten lang schweigend da und machten sich dann wieder auf den Weg. Außer ihnen war keine Seele auf dem Boulevard zu sehen. Samokowljew drehte sich abrupt um und wandte sich seinem Flamen zu. „M’sieu, wie heißt diese Straße?“ Dieser war verblüfft, breitete die Arme aus und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand. „Je ne sais pas (,Ich weiß es nicht‘)…“ Samokowljew lachte und ging weiter – immer geradeaus. Irgendwann schlug es ein Uhr. Als er auf die erste Quergasse traf, bog er in sie ein und begann mit aller Kraft zu rennen. Der Flame hinter ihm her. So eilten zwei Fremde in der tiefen Nacht durch die Straßen von Brüssel hintereinander her. Nachdem sie das Viertel von drei Seiten umrundet hatten, führte Samokowljew seinen Flamen wieder auf den Boulevard hinaus. Beide waren müde und wütend und gingen verdrossen weiter. Es waren zwei oder drei Droschkenkutscher auf der Straße; es wäre sinnlos gewesen, einen von ihnen zu nehmen, weil der Schnüffler den anderen genommen hätte. Sie gehen weiter. Der endlose Boulevard schien sich dem Ende zuzuneigen. Ein einsamer Droschkenkutscher stand in der Nähe einer kleinen nächtlichen Taverne. Samokowljew sprang in die Kutsche. Der Schnüffler lief auf den Kutscher zu und begann etwas zu flüstern. – „Los, los, ich habe keine Zeit für so etwas!“ „Wo willst du hin?“ Der Schnüffler war misstrauisch. Der Delegierte bezeichnete einen Park, fünf Gehminuten von seiner Wohnung entfernt. „Hundert Sous!“ (fünf Franc), sagte der Kutscher unentschlossen. „Los!“ Der Droschkenkutscher nahm die Zügel in die Hand. Der Schnüffler eilte in die Taverne, kam mit dem Garçon wieder heraus und begann, ihm seinen Peiniger zu zeigen….. Eine halbe Stunde später, als er im Park stand, befand sich der Delegierte bereits in seinem Zimmer. Als er eine Kerze anzündete, bemerkte er einen Brief auf dem Nachttisch – auf seinen bulgarischen Namen. Wer könnte ihm hier geschrieben haben? Es stellte sich heraus, dass es sich um eine an Sieu Samokovlieff gerichtete gedruckte Einladung handelte, sich morgen um 10 Uhr mit dem Pass bei der Polizei zu melden. So hatte ein anderer Schnüffler den sibirischen Delegierten am Vortag aufgespürt, und dieses ganze nächtliche Rennen über den Boulevard hatte sich für beide Teilnehmer als völlig nutzlose Kunst erwiesen. „Sieu“ – etwas Ähnliches wie Gauner – kündigte nichts Gutes an. Tatsächlich: Diejenigen Delegierten, die bei der Polizei erschienen, wurden angewiesen, Belgien innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu verlassen.
Der Parteitag siedelte nach London um und beendete dort seine Arbeit, die die Sozialdemokratie für lange Zeit in Bolschewiki und Menschewiki spaltete….
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Harting, der damals die Berliner Agentur leitete, berichtete dem Polizeidepartement, dass „die Brüsseler Polizei von dem beträchtlichen Zustrom von Ausländern überrascht war und 10 Personen anarchistischer Ränke verdächtigte“. Warum genau 10? Es waren insgesamt mehr als 40 Delegierte und etwa 15 Gäste mit beratender Stimme anwesend. Woher wusste Harting mit solcher Genauigkeit, dass die Brüsseler Polizei gerade 10 Personen anarchistischer Ränke verdächtigte? Sehr einfach: wenn nicht Harting selbst, dann hatte einer seiner Mitarbeiter die Brüsseler Präfektur auf diesen Verdacht gebracht….
Hartings Berichte über den Parteitag – es sind ihrer zwei – sind sehr wissbegierig, und bei allem Stumpfsinn dieser Dokumente enthalten sie weniger Lügen, als man hätte annehmen können. Harting hatte seinen eigenen Informanten – er prahlte sogar, dass es ganze drei waren -, nicht einen Delegierten, aber eine Person, die zweifellos der Organisation des Parteitages nahe stand. Zu der Zeit, als Samokowljew auf der kleinen Station über den Puffer kletterte, um nicht von Genf aus abzureisen, oder auf dem Brüsseler Boulevard vor dem Beschatter davonlief, hatte Harting bereits seinen Vorrat an internen Spitzeln aufgestockt, als hätte er einen Trichter an die Sitzungen des Parteitages gesetzt, durch den alle Informationen fehlerfrei zu ihm fließen sollten. Doch damit war die Sache noch nicht zu Ende. In der Zeit, als Harting seine Mitteilungen an das Polizeidepartement weitergab und die unvermeidlichen Wissenslücken mit Lügen füllte, saß Herr Leonid Menschtschikow im Departement und schrieb sorgfältig alle aufschlussreichen Dokumente ab – wofür? Man weiß es nicht, zu welchem Zweck er sie damals abgeschrieben hat, aber er hat sie jetzt in Paris veröffentlicht*. Auf diese Weise hatte nicht nur die Konspiration des zweiten Parteitages, sondern auch die Konspiration des Departements ein Loch. Sowohl dort als auch hier erwies es sich, dass die Löcher einen feindlichen Trichter hatten. Und es ist immer noch eine Frage, welcher der beiden Trichter in der letzten Rechnung wirksamer war. Im Übrigen gibt es hier keine Frage.
Beide – sowohl Harting als auch Menschtschikow – sind interessante Gestalten und erreichten in den letzten Jahren nicht geringe Bekanntheit. Arkadij Michailowitsch Harting, – wie seinerzeit in den Zeitungen im Zusammenhang mit seiner Enttarnung durch Burzew ausführlich berichtet wurde, – in intimen Kreisen „Arkaschka“, alias Landesen, in Wirklichkeit Abram Hekkelman, ein Provokateur und Dynamitler, wurde von einem französischen Gericht in Abwesenheit zu Zwangsarbeit verurteilt, später General der Ochrana und Ritter der französischen Ehrenlegion (unter falschem Namen!), Harting zeichnete sich dadurch aus, dass er erfolgreich Spione anwarb. Ab dem Jahre 1902 leitete er eine spezielle Agentenorganisation in Berlin, die zunächst mit 45.000 Rubel pro Jahr ausgestattet war. Die deutsche Polizei kannte den Zweck dieser Organisation. Später ging Harting nach Paris und leitete die dortige Organisation bis 1910, als er mit Hilfe Menschtschikows von Burzew in der Presse entlarvt wurde.
Menschtschikow selbst begann gleichfalls als Radikaler. „In den Tagen der fernen Jugend“, so schreibt er über sich selbst, „wurde ich gleichzeitig von zwei ,Genossen‘ verraten, die sich als Agenten der Ochrana entpuppten: von dem, der mich propagierte (Subatow) und von dem, den ich entwickelte (Krascheninnikow). Ich beschloss dann, in das Lager der Ochrana einzutreten, um die Manieren ihrer Aktivitäten zu enthüllen.“ … Dort beschäftigte er sich nicht mehr und nicht weniger als zwei Jahrzehnte lang mit dem Studium der „Frage“, im Übrigen nicht nur theoretisch: Im Frühjahr 1902 unternahm er – entlang von abgefangenen Adressen und mit einem abgefangenen Passwort – eine große Tour durch Nordrussland, als dessen Auswirkung mehrere Dutzend Personen verhaftet wurden. Dies geschah im Verbindung mit der Vorbereitung eben jenes sozialdemokratischen Parteitages, der später von Harting so gründlich „durchleuchtet“ wurde. Und denselben Menschtschikow, der versuchte, die Vorbereitung des Parteitages zu vereiteln, „durchleuchtete“ Harting zu seiner Zeit – „im Interesse der Befreiungsbewegung“! Wundersam sind deine Taten, Herr!
Menschtschikow begann im Herbst 1905 Provokationen zu enthüllen, als er, noch im Dienst, einen Brief an die Partei der Sozialrevolutionäre mit Hinweisen auf zwei Provokateure schickte: Tatarow und Asef, von denen der erste später getötet wurde, aber der zweite untertauchte. Menschtschikow begann, „die Daten über Spione vollständig zu erfassen“, nachdem er ins Ausland gegangen war. Hier eröffnete er bekanntlich zuallererst Burzew den wahren Namen Hartings und informierte dann über Burzew die Sozialdemokratie darüber, dass der Provokateur Batuschinskij (alias Barit) in ihrem ausländischen Milieu verkehrte. Gleichzeitig enthüllte er den Bundisten den Provokateur Kaplinskij und die Sozialrevolutionärin Sinaida Schutschenko; außerdem soll er die verdiente Ochranaagentin Anna Jegorowna Serebrjakowa enttarnt haben. Im Herbst 1909 überreichte Menschtschikow den Sonderdelegierten der Parteizentren Listen von Ochranaagenten, wobei 90 Namen der Anteil der russischen Sozialdemokratie, 20 der Anteil des Bund, 75 der der polnischen revolutionären Parteien, 25 der der Sozialrevolutionäre, 45 der der kaukasischen Organisationen und 20 der der Finnen sind. Neben vielen anderen enthüllte Menschtschikow eine der Masken der „Nowoje Wremja“, den ehemaligen sudeikinschen Agenten Wladimir Degajew, der jetzt unter dem Namen Fields Sekretär des russischen Konsulats in New York ist.
Harting, so wurde vor kurzem in den Zeitungen mitgeteilt, erhält jetzt eine gute Pension (aber Herr Menschtschikow muss der Pension entbehren). Aber dafür ist der wirkliche Staatsrat „Arkaschka“ gezwungen, seinen Kohlkuchen schweigend zu essen, und selbst der Orden der Ehrenlegion kann nur bei der Kindstaufe eines hochrangigen Schnüfflers getragen werden; der alte Mann ist nur zu gern bereit, ein Artikelchen über den Tschuchoninschen Separatismus in „Nowoje Wremja“ zu schreiben, und selbst dann in der Abenddämmerung…. Bei Herrn Menschtschikow ist es eine ganz andere Sache. Er hat seine zwanzig Jahre im Departement wie eine Uniform ausgezogen und sieht keinen Grund, sich vor dem Licht zu verstecken; umgekehrt, er sucht auf jede erdenkliche Weise die Öffentlichkeit. Wir kennen Menschtschikows Antriebsmotive nicht; es ist schwierig, ihm zu glauben, dass er zwanzig Jahre lang im Departement saß, um deren „Manieren zu studieren“. Aber das ist alles gleich; die Gegenüberstellung der beiden verdrehten Schicksale erscheint deshalb nicht weniger lehrreich. Der überführte Provokateur stürzt in die Unterwelt und verzehrt mürrisch die Ersparnisse der vergangenen Jahre. Der Überläufer aus der Ochrana schämt sich nicht im Geringsten für seinen Verrat, umgekehrt, er stellt ihn zur Schau und fordert Anerkennung. Ob aufrichtig oder heuchlerisch, ist das nicht alles gleich? Schließlich ist auch Heuchelei nichts anderes als die Fälschung des Lasters wegen der Tugend.
Herr Menschtschikow hat sein erstes Buch mit Ochrana-Materialien mit einem Vorwort versehen, aus dem hervorgeht, dass er nicht einfach Dokumente druckt, sondern Materialien für einen zukünftigen „russischen Olard oder Sorel“ vorbereitet, der „ein Gebäude errichten wird, das der glorreichen Vergangenheit des Befreiungskampfes durchaus würdig ist“. Herr Menschtschikow liefert nicht nur Material für den zukünftigen „Bau“, er will auch die Gegenwart beeinflussen. Er, Menschtschikow, glaubt nicht, dass es in Russland ein „Parlament“ oder eine „Verfassung“ gibt. „Die legalen Möglichkeiten, von denen einige Optimisten immer wieder sprechen“, hält er für „gespenstisch“, und „die Erfolge der heroischen Versuche der Ausnutzung dieser Möglichkeiten für fragwürdig“. Und weiter folgt die Vorhersage: „Der Moment ist nahe, in dem die Naivsten einen „zerbrochenen Trog“ vor sich sehen werden, und die Herren Legalisierer – diejenigen unter ihnen, die nicht beabsichtigen, den Weg der Anpassungen bis zum Verlust ihres eigenen Gesichts zu beschreiten – werden gezwungen sein“… usw. usw. Natürlich hätte das Werk des ehemaligen Tschinowniks des Polizeidepartements viel gewonnen, wenn es diese Urteile nicht gegeben hätte, unabhängig vom politischen Wert der oben genannten Urteile, aber man muss zugeben, dass die Gestalt des Autors viel an Integrität eingebüßt hätte. Herr Menschtschikow schreibt in demselben Vorwort: „Aufruhr“ (nicht Aufstand) der Dekabristen, nach alter Departementserinnerung, und predigt gleichzeitig, ohne gewagte Assoziationen herbeizurufen zu fürchten, die „Hebung der ethischen Anforderungen“ im revolutionären Milieu, als „prophylaktisches“ Mittel gegen Verräter…
Seine ehemaligen Kollegen attestiert Herr Menschtschikow nicht die besten Seiten. Sie „glänzen allgemein nicht mit Verstand und Fähigkeiten“ (S. 223). Über einen so erstklassigen Star wie Ratschkowskij bezeugt Herr Menschtschikow: „Ratschkowskij zeigte in seinen Berichten sowohl einen Mangel an Erkenntnis als auch politische Unwissenheit…“. Und dieser Einschätzung kann man wahrlich schwer widersprechen. Alle von Menschtschikow publizierten dienstlichen Meldungen sind wirklich Denkmäler geistiger Verwahrlosung. Aber die Spitzel (Ratajew, Ratschkowkij, Harting) lebten nur, um die revolutionäre Bewegung zu „durchleuchten“. Sie hätten zumindest ihr Handwerk erlernen können. Doch die Aufklärer verstanden nichts von dem, was vor ihren Augen geschah, nicht nur aus historischem Blickwinkel, sondern nicht einmal aus polizeilich-dienstlichem Blickwinkel. Es war leicht, dass Subatow mit seinem Orientiertsein in revolutionären Beziehungen und seiner Idee des Polizei-Ökonomismus in diesem Milieu fast wie ein Genie wirkte. Die meisten schnüffelten einfach herum und fügten die Berichte der „Mitarbeiter“ und die Beobachtungen der Spitzel, die mechanisch die Lücken mit Lügen füllten, zusammen und schickten das Ganze weiter. Die Lügen wurden wie ein schlampiges Pflaster aufgeklebt, ohne jegliche Übereinstimmung mit dem grundlegenden Stoff. Man könnte von jedem von ihnen sagen, was man von Kschepschizjulski sagen konnte: „Er war ein fabelhafter Lügner, wenn auch nicht amüsant…“. Besonders törichten Charakter haben die dienstlichen Meldungen im Zusammenhang mit Fraktionsspaltungen des revolutionären Milieus. Ein „Mitarbeiter“ (d.h. einfach ein Provokateur) sitzt in einer der Fraktionen und gibt nach bestem Wissen und Gewissen alle Informationen, die durch die Psychologie des von ihm „beleuchteten“ Zirkels gebrochen werden, an seine Vorgesetzten weiter. Ratschkowskijs Ochrana-Genie berücksichtigt nicht einmal diesen Umstand. Als Ergebnis kommt es, dass Ratschkowskij die Tätigkeit Plechanows nicht nur mit Polizeiaugen, sondern auch mit den Augen von dessen Gegnern – den „Ökonomisten“ – betrachtet. Er beklagt sich über Plechanows „Ränke“ und „Intrigen“, als ob er sich die Interessen der von Plechanow gekränkten Gruppe zu Herzen nähme. Noch kurioser ist in dieser Hinsicht Hartings dienstliche Meldung über den sozialdemokratischen Parteitag, den wir bereits oben genannt haben. Der ganze Bericht ist auf den Berichten eines Mitarbeiters aufgebaut, der der bolschewistischen Fraktion nahe stand. Harting gibt unter dem Anschein der Charakterisierung der Mitglieder des Parteitages fleißig alle Meinungen und Gerüchte wieder, die im Milieu der bolschewistischen Hälfte des Parteitages über ihre Gegner, die Menschewiki, im Umlauf waren, und gibt nicht nur nicht den fraktionellen Schlüssel zu diesen Charakterisierungen an, sondern bemerkt auch nicht, dass er über die bolschewistischen Mitglieder des Parteitages fast keine Einschätzungen hat, und falls welche zu ihm gelangten, dann nur positive. Der Hauptinhalt der Untersuchungen bleiben natürlich die Namen. Hier liegt der Hauptreichtum der Berichte, aber hier lügen die Referenten am meisten, um die Lücken ihrer Informationen zu füllen. Hier eines von vielen Beispielen: Zwei Armenier waren Delegierte aus Baku auf dem Parteitag: Bogdan Minajewitsch Knunjanz (Radin), der später in der Angelegenheit des Petersburger Sowjets der Arbeiterdeputierten zur Ansiedlung verbannt wurde, aus Sibirien floh und am 14. Mai 1911 im Gefängnis von Baku an Typhus starb, und Arschak Gerasimowitsch Surabow, später ein berühmter Abgeordneter der II. Duma und in der gegenwärtigen Zeit ein Emigrant. Ihre Namen erfuhr Harting nicht. Aber ihm oder seinem „Mitarbeiter“ war bekannt, dass in den sozialdemokratischen Reihen der Armenier Lalajanz, mit Spitznamen Insarow, eine angesehene Persönlichkeit war (der jedoch auf dem Parteitag nicht zugegen war). Und hier schafft Harting speziell für Armenier eine kreisförmige nationale Bürgschaft und nennt Knunjanz und Surabow…. Insarow I und Insarow II! Und diese von Harting frei geschaffenen „Insarows“, die durch den Schmelztiegel des Departements gegangen sind und sich von dort aus in die Gouvernements verbreitet haben, bildeten zweifellos eine Grundlage der Ochrana-Mythenbildung.
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Wenn du diese Dokumente liest, hast du ein sonderbares Gefühl. Die Geschichte webt ihre Grundlage, aber ein Teufelchen bemüht sich mit allen Kräften, diese Fäden zu zerreißen und zu verwirren. Und in manchen Momenten scheint es, als sei es nicht ein Teufelchen, sondern der allmächtige Satan, und als sei die alte Frau Geschichte verblendet und erschlafft und könne mit dem boshaften Geist nicht fertig werden. … Hier steht der Name Burzew, der später für seine Enthüllungen berühmt wurde, und über ihn wird in diesen dienstlichen Meldungen buchstäblich alles mitgeteilt, was er macht, was er sagt, was er annimmt, als ob er unter einer Glaskuppel lebte: Ratschkowkij wusste, wie Burzew in Gesprächen den „geheimen Zweck“ der Herausgabe von „Byloj“ [Vergangen] erklärte, was er über den Literaturagenten Pankratjew sagte, den er in Russland empfahl; Korrekturfahnen von Burzews Veröffentlichungen wurden zusammen mit Briefen von ihm und an ihn an das Polizeidepartement weitergeleitet. Es zeigt sich im Übrigen, dass dem Departement der Schlüssel der Chiffrierung bekannt war, die zu dieser Zeit von allen in konspirativen Beziehungen zu Burzew Stehenden gebraucht wurde. Die Chiffrierung lautete: „Und hier, Milan, ist deine Belohnung für dein Leben als Gauner.“ Was also stattfand, war Folgendes: Burzew schrieb einen Entwurf des Briefes, ersetzte die Buchstaben durch Zahlen, setzte den Satz der Chiffrierung darunter, einen Buchstaben unter einen Buchstaben, wobei er sie auch hier durch Zahlen ersetzte, addierte beide Zeilen und schickte dem Empfänger die Zahlen der Summe. Der Empfänger würde dann die kräftezehrende Arbeit in umgekehrter Reihenfolge machen und so den Satz herausschreiben, der zu diesem Zeitpunkt dem Departement bereits bekannt war, vielleicht sogar aus Burzews Entwurf. Aber wenn wir uns wieder daran erinnern, dass Menschtschikow, der jetzt mit der Dechiffrierung der Departements-Chiffrierungen beschäftigt ist, im Departement saß, dann wäre das ein teuflisches Spiel, bei dem auf den ersten Blick weder der Anfang noch das Ende klar ist. Aber es scheint nur so – es gibt einen Anfang und ein Ende. …
Ratschkowskij berichtete, dass bei einem Revolutionär ein Manuskript abgefangen wurde – im Scherz gesagt: eine Biografie Washingtons. Man sollte meinen, dass nach dieser rettenden Tat die Fehlinterpretationen endlich eingestellt werden müssten. Aber nein: Derselbe Ratschkowskij musste im Jahre 1901 denunzieren, dass die Befreiungsbewegung „in Russland tiefe Wurzeln geschlagen hat, nicht nur unter unseren Intellektuellen, sondern auch unter den Arbeitern“. Ratschkowskij kommt natürlich zu der Schlussfolgerung, dass eine sofortige Aufstockung des Ochrana-Personals und der Besoldung erforderlich sei. Das ist selbstverständlich auch geschehen. Aber hat es den Fluss rückwärts fließen lassen? Hat die Welt aufgehört, Biografien über Washington zu schreiben? Hat das menschliche Denken seine Quellen versiegen lassen? Nichts dergleichen! Und hat sich nicht das ganze Aussehen Russlands in diesen 10-15 Jahren vor unseren Augen verändert!
Herr Menschtschikow leugnet, das stimmt, glatt die politischen Errungenschaften der vorherigen Epoche und behauptet, wir seien in den alten zerschlagenen Trog zurückgekehrt. Wenn die Sache so stünde, würde das bedeuten, dass Ratschkowskij gewonnen hätte, dass er zusammen mit Harting und Asef die vaterländische Geschichte in einen Teufelskreis gebracht hätte. Aber das ist doch Unsinn, und Herr Menschtschikow hätte besser daran getan, den Umkreis seiner Urteile auf das Register der zuverlässigen Provokateure zu beschränken. Nichts ist zu den alten Positionen zurückgekehrt. Die Ratschkowskijs und die Hartings stahlen Briefe, zerschlugen Druckereien, aber sie hielten die historische Bewegung nicht auf. Und letzten Ende verloren sie ihr Spiel unwiderruflich.
* „Die Vergangenheit“. – Russische politische Ermittlungen im Ausland. Teil 1. 1914.
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