Leo Trotzki: Die ersten Wochen des Krieges

Aus einem Schweizer Tagebuch

[Eigene Übersetzung des russischen Textes in Война и Революция [Wojna i Rewoluzija, Krieg und Revolution], Band 1]

7. August (neuen Stils) 1914

Es ist eine seltsame Sache: Der Ausbruch des Krieges ruft in den Menschen zusammen mit Fassungslosigkeit auch irgendeine Art Freude hervor. Wenn jemand durch ein offenes Fenster in die Menge ruft, dass der Mobilmachungserlass unterzeichnet wurde, berauscht sich die Menge, schreit „Hurra“, läuft aufgeregt durch die Straßen, singt patriotische Lieder und erweckt einen solchen Eindruck, als ob sie auf die Ankündigung der Mobilisierung und des Krieges gewartet hat und dass ihr lang gehegter Traum endlich ausgeführt wurde … Und das wiederholte sich überall, wo ich den Krieg beobachten musste: In Serbien und Bulgarien, wo die Sache um die „Befreiung der Brüder vom türkischen Joch“ ging; in Rumänien, wo die Sache um die offene Inbesitznahme bulgarischen Territoriums ging; in Österreich, wo man sich zum Erwürgen Serbiens sammelte … Man kommt zu der auf den ersten Blick ungeheuerlichen Schlussfolgerung, dass sich die Menschen über den Krieg als solchen „freuen“, unabhängig von seinen Zielen und Aufgaben. Und das ist im Wesentlichen auch richtig.

Der Krieg zerreißt die Fesseln der gewöhnlichen, also schweren Beziehungen, die von den Werktätigen stets als Zwangsarbeits-Fesseln gefühlt werden. Sobald man sie sich genau ansieht, sind sie unerträglich. Der Krieg bricht aus dem Gleis der Zwangsarbeit aus und verspricht Wandel. Der Krieg erfasst alle, und folglich haben die Unterdrückten, die Gedrückten, die vom Leben Betrogenen das Gefühl, mit den Reichen und Mächtigen auf gleichem Fuß zu stehen. Es ist diese angespannte Hoffnung auf Wandel und dieser (scheinbare) Rundum-Nachlass für alle Klassen, die zunächst jene erhabene und gleichsam heitere Unruhe hervorrufen, die den Zeitungsleuten aller Länder das Recht gibt zu schreiben: „Der Mobilisierungserlass wurde begeistert begrüßt“ ….

In dieser Hoffnung auf entscheidenden und plötzlichen Wandel, darauf, dass der Krieg einen von der beschämenden Last befreit, die man von der Morgendämmerung bis zur Nacht schleppen muss, ohne Licht, ohne Freude, – in dieser Hoffnung auf ein Wunder aus einem Märchen steckt viel Kindlichkeit – nicht umsonst spielen Jungen bei allen „patriotischen“ Demonstrationen eine so große Rolle. Die erste Welle der Ernüchterung kommt jedoch bald. Der Krieg bringt keinen Rundum-Nachlass; die Vergünstigungen, die er gewährt (wie ein Moratorium usw.), decken nicht einmal im entferntesten Grade die neuen materiellen Lasten, die er mit sich bringt.

Kriege haben nicht selten Revolutionen hervorgerufen. Und zwar nicht so sehr, weil der Krieg im staatlichen Sinne erfolglos war, sondern weil er die Schuldscheine der Hoffnung nicht eingelöst hat. Nachdem er die Volksmasse bis ins Mark aufgerüttelt, sie aus dem Alltäglichen herausgerissen und zum Nachdenken über das Alltägliche gebracht hat, nachdem er in ihrer Seele vage, aber tiefe Hoffnungen geweckt hat, endet der Krieg, indem er sie täuscht. Dies ist natürlich ein grobes Schema. Es gibt eine Reihe von Schwankungen in der Kriegsbegeisterung.

Der Mobilmachungserlass löst, wie gesagt, einen Hoffnungsausbruch aus. Kaum ist diese Stimmung im Mobilmachungsrausch verausgabt, folgt die Kriegserklärung. Eine neue, noch höhere Flut. Doch die Folgen der Mobilmachung werden immer akuter. Schwierigkeiten beginnen sich zu zeigen. Doch dann lässt die Nachricht vom ersten „glänzenden Sieg“ die Stimmung auf einen Höhepunkt steigen. Man hofft auf einen baldigen Frieden. Dann beginnt – von Zeit zu Zeit durch neue Höhenflüge unterbrochen – die Ebbe in der Stimmung sowohl bei denen, die gegangen sind, als auch bei denen, die geblieben sind…

9. August.

Gestern Abend sah ich Greulich. Er muss jetzt 73-74 Jahre alt sein, stämmig, nicht dick, aber gewichtig, schwer – das genaue Gegenteil des verstorbenen Bebel, des dünnen, leichten. Fast gleich alt, waren beide Arbeiter, aber sie waren sich nach dem Charakter sehr unähnlich. Bebel war die Verkörperung des Pflichtbewusstseins, ein Rigorist und absolut nüchtern. Das kann man von Greulich nicht behaupten. In Bezug auf „Weib, Wein und Gesang“ ist er der gleichen zustimmenden Meinung wie Martin Luther. Ich betrachtete den Greis mit Interesse. Er hat weiße lange Haare, sein Gesicht war nicht faltig, aber streng gezeichnet, und er war äußerst gescheit. Seine Augen waren alt und verblasst, mit schweren Lidern, aber während des Gesprächs funkelten sie mit echten Gedanken. Das Gespräch drehte sich selbstverständlich um den Krieg. Greulich ist unzufrieden mit dem Verhalten der sozialistischen Parteien, aber das ist die Unzufriedenheit eines friedlichen, neutralen Sozialdemokraten.

„Die Internationale gibt es nicht mehr. Sie sind stärker als wir. Wenn wir als Avantgarde handeln, erachten wir uns als eine Kraft. Aber wenn die großen Massen auf der Bildfläche auftreten, dann stellt sich heraus, dass wir immer noch eine kleine Minderheit sind. Das ist der Hinweis auf alles, was sich ereignet. Und wenn wir uns in einer klaren Minderheit befinden, dann ergreift die allgemeine Stimmung auch unsere Leute mit Macht. Victor Adler, Austerlitz, Renner, Bauer – das sind alles prachtvolle Menschen, aber schauen Sie, wie sie sich halten. Oder die deutschen Sozialdemokraten? Anstatt sich zu enthalten (!), stimmen sie für die Kriegskredite. Und Vandervelde wird in einer solchen Zeit Minister! …..

Dieser Krieg zeigte die tiefe Krise der Internationale. Sie wird selbstverständlich wieder aufleben, aber auf einer anderen Grundlage. Die politischen Parteien haben sich kompromittiert. Aber die Gewerkschaften haben sich ferngehalten (!?). Indessen können die Gewerkschaftsverbände nicht ohne eine internationale Organisation leben. Ich denke, dass die Internationale nach dem Krieg auf der Grundlage der Gewerkschaften wieder aufleben wird.“

Woher Greulich die Idee nahm, dass die Gewerkschaften beiseite blieben, ist vollkommen unverständlich. Er hat natürlich recht, dass „wir“ eine Minderheit darstellen. Aber diejenigen, die Krieg führen, sind auch eine Minderheit. Das hat sie aber nicht daran gehindert, die Mehrheit zu mobilisieren. Und das ging – sogar mit einer „Steigerung“.

… Wenn die abgegebene Erklärung Haases im Corriere della Sera stimmt, hat er sein Votum für die Kriegskredite mit dem Verweis auf die Gefahr des Zarismus motiviert. Von dem Krieg mit Frankreich hat er kein Wort gesagt.

Die englische Regierung motivierte die Notwendigkeit, in den Krieg einzugreifen, mit der Notwendigkeit, Frankreich gegen Deutschland zu unterstützen – über Russland verlor Asquith kein einziges Wort.

Die Politik der deutschen Sozialdemokratie brauchte das Unausgesprochene wie die Politik der englischen Regierung. Das Spiel ist also durchaus nicht sauber, nicht nur bei Asquith, sondern auch bei Haase. Und noch eine Schlussfolgerung: Der Krieg konnte vor der öffentlichen Meinung entweder mit der Notwendigkeit, den Zarismus zu bekämpfen gerechtfertigt werden, oder zumindest mit dem Totschweigen des Bündnisses mit ihm.

Zu den militärischen Perspektiven äußerte sich Greulich im gestrigen Gespräch wie folgt: „einen glänzenden Sieg über Frankreich wird Deutschland nicht erringen. Und wenn doch, wäre das eine äußerst traurige Tatsache. Die Deutschen werden in Frankreich große Opfer bringen, und wenn sie Erfolg haben, dann nicht einen solchen, der für Frankreich eine ausweglose Lage schaffen könnte. Aber in Russland werden sie große Siege erringen.“…

★ ★ ★

Der Tag der deutschen Nation.

Sitzung des Reichstages.

Diesen Tag des vierten August werden wir nicht vergessen. Wie immer die eisernen Würfel fallen mögen – und mit der heißesten Inbrunst unseres Herzens hoffen wir, dass sie siegreich fallen werden für die heilige Sache des deutschen Volkes –: das Bild, das heute der Deutsche Reichstag, die Vertretung der Nation, bot, wird sich unauslöschlich einprägen in das Bewusstsein der gesamten deutschen Menschheit, wird in der Geschichte als ein Tag der stolzesten und gewaltigsten Erhebung des deutschen Geistes verzeichnet werden. […] Auf der anderen Seite elende Spekulationen, Schacherkoalitionen, denen jegliche sittliche Idee fehlt. Hier ein einig kraftvoll bewegtes Volk; die Weltgeschichte müsste den Lauf rückwärts nehmen, wenn den Deutschen nicht ihr Recht würde!“ … („Wiener Arbeiter-Zeitung“).

Oh, die Smerdjakows!…

Aus Anlass der Stimmabgabe der deutschen Sozialdemokratie vom 4. August für Krieg und Kriegskredite schreibt die „Arbeiter-Zeitung“ über den großen Tag der deutschen Nation. Das Faktum, in dem wir den schmachvollen politischen Sturz der deutschen Sozialdemokratie sehen, erfüllt das Herz der „Arbeiter“-Zeitung mit Freude, Stolz und Hoffnung. Sie findet in ihrem Wortschatz solche poetischen Worte und Ausdrücke, die uns nur brennende Scham und – Abscheu verursachen. Oh, die Smerdjakows! Wie konnte das aber ungeachtet dessen geschehen? Wie konnte die Zweite Internationale in einem schrecklichen Fiasko enden?

Die Internationale besprach alle drei Jahre die Frage des Kampfs gegen die Kriegsgefahr – guerre à la guerre – und wenn es Meinungsverschiedenheiten gab, dann nur in der Frage, mit welchen Mitteln die internationale Sozialdemokratie die Explosion des Krieges verhindern sollte, oder – wenn der Krieg ausbrach – mit welchen Mitteln man die rückständigsten Massen der Macht der Herrschenden entreißen und die Folgen des Krieges auf die Köpfe der herrschenden Klassen hereinbrechen lassen sollte (Stuttgarter Resolution). Aber als der Spuk des Krieges Realität wird, tritt die deutsche Sozialdemokratie in geheime Verhandlungen mit ihrer Regierung, die ihr „unanfechtbare“ Beweise für ihre Friedfertigkeit liefert; die französische Regierung überzeugt die französischen Sozialisten vom gleichen; die österreichischen Sozialisten erklären das von Österreich-Ungarn an Serbien gestellte Ultimatum für im Wesentlichen gerecht. Als der Krieg beginnt, haben die deutschen Sozialdemokraten nichts anderes zu tun, als für die Bewilligung von fünf Milliarden für Militärausgaben zu stimmen; und die österreichischen Sozialdemokraten verfallen in jenen Zustand des blödsinnigen nationalen Rausches, von dem wir oben Beispiele angeführt haben. Es ist vollkommen offensichtlich: es handelt sich hier nicht um Fehlgriffe, nicht um einzelne opportunistische Schritte, nicht um „plumpe“ Erklärungen von der Parlamentstribüne, nicht um die Stimmabgabe der badischen großherzoglichen Sozialdemokraten für das Budget, nicht um die Experimente des französischen Ministerialismus, nicht um Renegatentum einiger Führer – es handelt sich um das Scheitern der Internationale in der entscheidendsten Epoche, für die die ganze vorangegangene Arbeit nur eine Vorbereitung war.

10. August.

Es ist zweifellos, dass die Symptome – und nicht nur die Symptome – der nationalen Widersprüche in der Internationale selbst offensichtlich waren. Die österreichische Sozialdemokratie hatte vor dem Kriege nicht einmal ihre formelle Einheit bewahrt und war an den nationalen Nähten zersprungen. Vor einigen Jahren musste ich in der „Neuen Zeit“ über die chauvinistische Tendenz der Wiener Arbeiter Zeitung, besonders in Fragen der Außenpolitik, schreiben. Die über meine unzulässige „Einmischung“ entrüsteten Austro-Marxisten (O. Bauer und andere) erklärten damals die ganze Angelegenheit damit, dass das außenpolitische Ressort von L. geleitet werde, und dieser L… habe eine große Familie und falsche Sichtweise (buchstäblich!); wegen seiner großen Familie könne man ihm den Redaktionsposten nicht verweigern, und er vertrete seine falschen Ansichten in einem solchen Ressort – dem Auswärtigen -, das gerade in Österreich zum Bereich der dekorativen Politik gehöre: „Die Arbeiter lesen das nicht.“ „Bei uns in Österreich hat es keine, keine Bedeutung…“. „Bei uns gehört es zum Bereich der dekorativen Politik“… V. Adler definierte alles, was die Internationale betraf, gerne mit den Worten: „das Brüsseler Departement, die dekorative Politik“. Diese Sichtweise war bis zum letzten Grade kurzsichtig und falsch, besonders im multinationalen Österreich-Ungarn: die Außenpolitik der österreichisch-deutschen Sozialdemokraten eckte immer auch an die inneren Beziehungen der Arbeiter verschiedener Nationalitäten in Österreich selbst an. Es ist unmöglich, im Namen der „deutschen Idee“, des „deutschen Geistes“ gegen die slawische Idee aufzutreten, wie es von der „Arbeiter Zeitung“ gemacht wurde, und gleichzeitig die deutschen Arbeiter mit den slawischen Arbeitern zu vereinen. Es ist unmöglich, Tag für Tag die Serben des Reiches als „lausige Pferdediebe“ zu malträtieren und die deutschen Arbeiter mit den österreichischen Südslawen zu vereinen. Der sozialdemokratische Abgeordnete Ellenbogen sprach auf Massenversammlungen in Wien: „Wir sind der deutschen Nation treu im Glück und im Unglück, im Frieden und im Kriege.“ Im selben Geiste sprachen auch Pernerstorfer, Austerlitz … Andere sagten dasselbe, aber weniger trotzig. Infolge dieser Politik zerfiel die Partei in nationale Bestandteile, und die deutsche Sozialdemokratie Österreichs erwies sich in der Stunde des Krieges als Hilfsabteilung der Monarchie. Denn man muss geradewegs sagen: Hätte Berchtold selbst ein Tätigkeitsprogramm für die österreichische Sozialdemokratie in der Epoche der internationalen Krise entworfen, so hätte er nichts anderes vorschlagen können als das, was in der Rechten Wienzeile* getan wurde.

Nicht so klar waren diese Symptome der nationalistischen Vergiftung in der deutschen Sozialdemokratie zu beobachten. Aber auch dort fehlte es nicht an alarmierenden Warnungen. Bebel versprach einmal, sein Gewehr auf die Schulter zu nehmen, um das Vaterland gegen den Zarismus zu verteidigen. Die Unteroffiziere der Partei nahmen eine solche Erklärung sehr, sehr ernst. Die gleiche Formulierung wurde von Noske in der seinerzeit [1907] viel Lärm machenden Haushaltsrede wiederholt. „Er hat den Bebel überbebelt“, sagten sie in der Partei über ihn. In privaten Gesprächen, bei einem Krug Bier, drückten sich die mittleren Tschinowniks der Partei manchmal in einem Geist von so unverblümter, national-philisterhafter Selbstzufriedenheit aus, dass man nur verwundert die Augen aufreißen konnte … Aber was die formalen Gebote des Internationalismus (die „dekorative Politik“, nach V. Adler) anging, so hielt die deutsche Sozialdemokratie sich besser an sie als jede andere der großen westeuropäischen Parteien**.

11. August.

… Der Zusammenstoß der nationalen Beschränktheit der Sozialdemokratie mit den internationalen Aufgaben, die durch die Entwicklung des Imperialismus gestellt wurden, bewirkte die Selbstliquidierung der Zweiten Internationale.

Es kann keinerlei Zweifel daran sein, dass noch im Verlauf der nächsten Monaten das europäische Proletariat sein Haupt erheben und zeigen wird, dass unter dem Europa des Militarismus das Europa der Revolution lebt. Nur das Erwachen der revolutionären sozialistischen Bewegung, die sofort überaus stürmische Formen annehmen muss, wird das Fundament der neuen Internationale legen. Man kann nicht bezweifeln, dass sie durch einen tiefen inneren Kampf gegründet werden wird, der nicht nur viele alte Elemente aus dem Sozialismus beiseite werfen, sondern auch dessen Basis verbreitern und sein politisches Aussehen neu gestalten wird. Auf jeden Fall wird der Sozialismus nicht von vorne beginnen müssen. Die Dritte Internationale wird in einem grundlegenden Sinne eine Rückkehr zur Ersten Internationale bedeuten, aber auf der Basis der organisatorisch-erzieherischen Errungenschaften der Zweiten Internationale.

Die kommenden Jahre werden eine Epoche der sozialen Revolution sein. Nur der revolutionäre Aufschwung des Proletariats kann diesen Krieg beenden – andernfalls wird er angesichts der Komplexität der an ihm beteiligten Faktoren und der Unermesslichkeit des Aktionsfeldes und der Kräfte bis zur völligen Erschöpfung Europas und der Welt dauern und unsere gesamte Zivilisation um eine Reihe von Jahrzehnte zurückwerfen….

12. August.

– Republik – Republik, – sagt Gleb Uspenskis französisch-russischer Spießbürger in Paris, – und wohin haben sie die Kartoffeln gesteckt?

Dies ist auch das grundlegende Kriterium der Schweiz: Kartoffeln. Die deutsche Schweiz ist auf der Seite Deutschlands, die französische Schweiz ist auf der Seite Frankreichs. Aber beiden geht es in erster Linie um die ungehinderte Beschaffung von Nahrungsvorräten. In diesem europäischen Krähwinkel werden nun alle Ereignisse aus dem Blickwinkel der Kartoffel betrachtet. Die Schweiz hat sich bewaffnet, um ihre Häuser, ihre Weinberge und ihre Milchkühe gegen alle Übergriffe zu verteidigen. Hier hören die nationalen Sympathien auf. Der Schweizer scherzt nicht gerne über seine Kartoffeln. Allerdings muss man sagen, dass die kleinbürgerlich-bäuerliche, kantonal-republikanische Schweizer Miliz, die zur Sicherung des Schweizer Territoriums einberufen wird, dem Auge unvergleichlich mehr imponiert als die gedrillten, aufgeputzten europäischen Regimenter. Der Österreicher zieht aus, um Serbien zu unterwerfen und dem Prestige der österreichisch-ungarischen Monarchie Respekt zu verschaffen. Der Deutsche marschiert gegen Brest-Litowsk, das er auf der Landkarte nicht finden kann. Die englische Flotte sticht in See, um das Kontinentalsystem aufrechtzuerhalten. Der Muschik von Kursk macht einen Feldzug zur Unterstützung seiner slawischen Brüder und für das „schöne Frankreich“ (na klar!). Der Schweizer hingegen hat sein treffsicheres Gewehr in die Hand genommen zum Schutz seines Kohls, seines Kaninchen und seiner Kartoffeln – zumindest weiß er genau, warum er an die Grenze geht, was und wen er beschützen wird. Und wenn man diese beschränkten, stämmigen, braungebrannten, oft grauhaarigen Menschen mit den scharfen Augen von Jägern und Schützen betrachtet, wenn man ihre geschäftliche Disziplin, ihre persönliche Unabhängigkeit, ihr Selbstbewusstsein beobachtet, dann empfindet man vor dieser konservativen bürgerlichen Muschikdemokratie unermesslich mehr Respekt als vor dem immer noch halb-feudalen Europa mit seinen Höfen, Wappen, Manifesten von Gottes Gnaden und anderen Accessoires des Mittelalters. …

★ ★ ★

Die Russen, die hier festsitzen, beurteilen das Weltereignis hauptsächlich unter dem Blickwinkel des Rubelkurses und der Preise für Nahrungsvorräte. Der Kredit wurde sofort eingestellt; die Beziehungen zu Russland wurden abgebrochen; russisches Geld wurde nicht mehr in Schweizer Geld umgetauscht. Dann begann man, 100 Rubel für 100 Franken umzutauschen, dann wurde der Umtausch wieder eingestellt, wieder geändert und wieder eingestellt …

– Heute Morgen gaben sie 240 Franken für 100 Rubel.

– Das kann doch nicht sein!

– Wie das sein kann? England hat Deutschland den Krieg erklärt. Beeilt euch und wechselt eure zweimal fünfundzwanzig Rubel, sonst greift morgen Italien auf der anderen Seite ein, zum Teufel, und sie werden uns nur noch Kleingeld geben. …

★ ★ ★

Die Nachrichten von der russisch-deutsch-österreichischen Grenze sind überaus verschwommen. Von Zeit zu Zeit erhebt sich vor dem Hintergrund dieser Verschwommenheit eine Rakete, immer von derselben österreichischen Marke (Konrad von Hötzendorf oder Daszyński?): Russisch-Polen ist im Aufstand, eine revolutionäre nationale Regierung ist in Warschau, russische Truppen haben Polen vollständig geräumt, usw. usw. Diese Nachricht erscheint nur deshalb unwahrscheinlich, weil sie zu früh kam. Generell sprechen aber alle Erwägungen dafür, dass Russland auch diesmal den Weg der eigenen Niederlage beschreiten wird. Das Gerede, wir hätten seit dem Russisch-Japanischen Krieg alles hinzugelernt, alle Versäumnisse berichtigt und stünden „auf der Höhe“, ist völlig unglaubwürdig.

Das beginnt schon bei der Masse der Soldaten, und zwar bei den bäuerlichen Schichten. Es gibt keine Möglichkeit anzunehmen, dass die neuen Agrarordnungen sieben Jahre Zeit hatten, die jüngeren Generationen des Dorfes umzuwandeln und sie „gesetzestreu“ und „bewusst patriotisch“ zu machen. Im Gegenteil, es waren die reaktionären Historiker, die ihr Bestes taten, um die neuen Bauerngenerationen mit allen Merkmalen der Gesetzlosigkeit und des Hooliganismus auszustatten. Es genügt, an die Reden auf den Kongressen des vereinigten Adels zu erinnern, an Rodjonows Roman „Unser Verbrechen“, an die Artikel von Menschikow usw. usw. In der Tat hatte seit 1905 und früher eine große Alltagslebens-Revolution im Dorf begonnen, das Erwachen der Persönlichkeit des Bauern und folglich der völlige Zusammenbruch des Tolstoischen Karatajewismus, des unpersönlichen Alltagslebens-Fatalismus, der Verantwortungslosigkeit, der elementaren Psychologie und Moral, gespeist von der „Macht des Bodens“.

Das Erwachen der Persönlichkeit des Bauern, das vom wirtschaftlichen Wachstum des Dorfes abhängt, muss zweifellos aus der bäuerlichen Masse konservative individualistische Eigentümer hervorbringen, die den Rückhalt der bürgerlichen Ordnung bilden. Jener dörfliche „Hooliganismus“ der Jugend, gegen den das Russland des 3. Juni unablässig drakonische Maßnahmen forderte, kennzeichnete das Anfangsstadium dieses Prozesses – ein schroffes anarchisch-akutes Erwachen der Persönlichkeit im bisher unpersönlichen Gemeinde- und Staatsangehörigen. Wie sich dieser Prozess in 10 oder 20 Jahren entfalten wird (die Initiatoren des Agrargesetzes vom 9. November haben selbst fast ein Jahrhundert für die Entdeckung seiner segensreichen Wirkung gefordert), ist eine besondere Frage, die vom gesamten Verlauf der wirtschaftlichen und politischen Evolution des Landes abhängt. Aber die unmittelbare Wirkung der Umwälzung des ökonomischen Alltagslebens und der psychologischen Grundlagen des Dorfes richtete sich direkt gegen die Autoritäten – die Väter, die Gemeinde, die Grundherren, die Kirche, den Staat.

Riesige Bedeutung hat für die zeitgenössische Armee die Entwicklung des Schulunterrichts, zumindest die Verbreitung der einfachen Bildung. Die Konterrevolution hat auf diesem Weg gewisse Eroberungen gemacht, zumindest quantitativer Art. Aber die Generationen von Bauern, die jetzt die Reihen der russischen Armee füllen, hatten noch keine Zeit, das neue Schulnetz zu nutzen. Der Krieg überrascht das russische Land in der Anfangsphase der Umwandlung, und das muss sich auf dem bäuerlichen Material unserer Infanterie in der für die Herren der Lage erbärmlichsten Weise niederschlagen.

Wie die Stimmung der jüngeren Arbeitergeneration ist – und der Prozentsatz der Arbeiter in der Armee hat in dem Jahrzehnt seit dem russisch-japanischen Krieg enorm zugenommen -, ist ohne viel Gespräch klar: Am Vorabend des Krieges fegte ein Streik durch das Land, der in Petersburg einen ungestüm-revolutionären Charakter annahm. Die Arbeiter werden mit denselben Gefühlen in die heutige Armee eintreten, die sie in den letzten zwei Jahren zu ständigem politischen Auftreten getrieben haben, d.h. mit Gefühlen tiefen Hasses gegen das gesamte regierende Russland. Auch die Gefühle der zahlreichen „fremdstämmigen“ Elemente der Armee, die durch das Regime der Konterrevolution bis zum höchsten Grade gereizt werden können, können nicht besser sein.

Das ist das Soldatenmaterial der Armee: die Bauernschaft, endlich aus der patriarchalischen Passivität herausgeklopft, aber bei weitem noch nicht in die bürgerlichen Normen eingetreten; die rebellischen Arbeiter; die Fremdstämmigen, verbittert wie nie zuvor.

Von nicht minderer Bedeutung für den Verlauf der Kriegsoperationen ist das Offizierskorps. Sein Innenleben in Friedenszeiten ist dem Uneingeweihten verschlossen. Aber um zu beurteilen, was das russische Offizierskorps in der vorrevolutionären Epoche geworden ist, braucht man sich in der Tat nicht Kunstwerken aus dem Umfeld der Offiziere (Kuprin) oder an jenen „Exzessen“ zuzuwenden, bei denen Vertreter aller Waffengattungen mit dem Publikum von Nachtcafés, Restaurants oder Bahnhöfen Hand in Hand verkehren. Im Wesentlichen genügt es zu sagen, dass das Offizierstum in seiner oberen, befehlshabenden Schicht ein untrennbarer Teil des herrschenden Russlands ist. Hier findet die gleiche Auslese von Ansichten, Methoden und Haltungen statt. Der Kriegsminister Suchomlinow, der die Frau eines Gutsbesitzers heiraten wollte, ließ sich mit denselben Methoden scheiden, mit denen Scheglowitow den Beilis-Prozess organisierte. Offizierstum und Bürokratie sind kommunizierende Gefäße, und ihr durchschnittlicher sittlicher Stand ist der gleiche. Diese Auslese der Blutrünstigkeit, die in der Epoche der Befriedung stattfand, wurde in der Epoche des nationalistischen Servilismus (unter Stolypin) gefestigt und fand ihre natürliche Entfaltung in einer noch nie dagewesenen Veruntreuung, Vetternwirtschaft und wildem Leichtsinn. Das vorrevolutionäre Russland kannte keine Herrscher im Stil von Maklakow-Kasso-Dumbadse, keine Inspiratoren im Stil Rasputins – nicht einmal Schtschedrin sah sie voraus; und der gleiche Rasputin-Geist spiegelt sich zweifellos im Führungsapparat von Armee und Flotte wider.

Aus all dem folgt die Unausbleiblichkeit der grausamsten Niederlage, die wiederum die revolutionäre Energie des Volkes freisetzen wird. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass wir noch vor dem neuen Jahr in unsere Heimat zurückkehren werden…***

★ ★ ★

Die Zürcher sozialdemokratische Zeitung „Volksrecht“ (Nr. 185, 12. August 1914) wirft die Frage nach der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln auf. Die Schweiz produziert selbst für nur ein Viertel der Bevölkerung Getreide. Das Defizit wird durch Importe gedeckt, über die heute keine Gewissheit besteht. Die einheimischen Kartoffeln können das Defizit teilweise ausgleichen. Auf jeden Fall ist der größte Bedarf im Bereich Brot und Kartoffeln – Stärke – absehbar. Die Bevölkerung ist dank der milch- und fleischbetonten Schweizer Landwirtschaft viel besser mit Fetten und Eiweiß versorgt. Das „Volksrecht“ verlangt die Requirierung des gesamten Getreides und der Kartoffeln dieses Jahres, ihren vollständigen Entzug aus dem privaten Handel und die geordnete Verteilung der requirierten Bestände über die kantonalen und kommunalen Behörden und die Konsumentenorganisationen an die Bevölkerung. Die finanzielle Seite der Angelegenheit müsse über die Nationalbank als Vermittlerin zwischen Staat und Landwirtschaft gelöst werden. Nur auf solchem Weg, so sagt das „Volksrecht“, kann man den Brotwucher und das Verhungern der Nichtbesitzenden, denen die reichere Bevölkerung die lebensnotwendigen Produkte abnehmen wird, vermeiden.

Aber das ist doch eine „sozialistische“ Maßnahme! Ja, es wäre ein – bescheidener, aber lehrreicher – Schritt zu einer sozialistischen Verteilung der Lebensmittel. Und dieser Schritt könnte der Schweiz tatsächlich durch ihre Lage aufgezwungen werden. Je größeres Chaos der Krieg in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen hineinträgt, je mehr er die Produktion und die Kommunikationsmittel durcheinanderbringt, desto vernünftiger und planvoller, umsichtiger und sparsamer muss die Verteilung der vorhandenen Lebensmittel erfolgen. Vernünftig und sparsam zu produzieren und zu verteilen ist aber nur auf sozialistischer Grundlage möglich. Das ist unsere Stärke, und sie wird sich in der kommenden Epoche der allgemeinen Desorganisation, Verwirrung und Not zeigen.

Unter dem in Zürich gestrandeten russischen Publikum, Emigranten, Studenten, Zufallsgestalten (Kurgäste, Touristen usw.) hat sich seit Kriegsbeginn ein „Komitee der gesellschaftlichen Rettung“ gebildet, das den Landsleuten umfassende Dienste leistet: es stellt Bescheide aus, gibt Anweisungen, leistet materielle Hilfe usw. Rings um dieses Komitee gruppiert sich nun das gesamte russische Publikum, vom Militärdeserteur bis zum Mitglied der Odessaer Gerichtskammer, vom emigrierten Arbeiter bis zum Direktor des Lazarewski-Instituts. An der Spitze des Komitees stehen natürlich die emigrierten Sozialdemokraten, die das uneingeschränkte sittliche Vertrauen genießen und die größten Fertigkeiten in öffentlichen Angelegenheiten haben. Vor sechs Tagen organisierte das Komitee eine billige Kantine, in der Suppe, Brei und Brot in unbegrenzter Menge für 30 Centimes ausgegeben werden, und zwar für die Armen kostenlos. Am ersten Tag haben 15 Personen dort gegessen, jetzt sind es etwa 160. Im Speisesaal, so erzählt man sich, begannen elegante Damen zu erscheinen, die sich in Zürich ohne einen Groschen und ohne die Möglichkeit, Geld aus Russland zu bekommen, wiederfanden.

Bald wird vielleicht die ganze Schweiz, und danach ganz Europa, zu einer solchen billigen Kantine werden müssen … Diese europäische Kantine ohne die Arbeiterorganisationen rationell zu organisieren, wird nicht möglich sein, und die führende Rolle in dieser Organisation der Ernährung werden natürlich die Sozialdemokraten spielen. In dem Chaos, das jetzt in Europa den Thron besteigt, wird dies der rettende Beginn der Organisation sein.

Die Menschheit wird nicht unter den rauchenden Trümmern des Militarismus ums Leben kommen. Sie wird sich unter ihnen hervorwinden und die richtige Bahn einschlagen. Beginnend mit der Sorge um die planmäßige Verteilung der Kartoffeln wird sie zu einer sozialistischen Organisation der Produktion kommen.

13. August.

An der Schwelle der Epoche, in der sich der internationale Sozialismus so grausam kompromittiert hat, kam Jean Jaurès ums Leben. Ich gehe nun gedanklich die Geschichte durch und finde zumindest in der neuen Epoche kein anderes Beispiel dafür, dass ein Mann von solch geistigem Wuchs einem Mord zum Opfer gefallen ist. Ereignisse, die in der Geschichte ihresgleichen suchen, haben sich nun überschlagen, um Jaurès‘ Blut und das Gedenken an ihn wegzuwaschen. Doch für viele ist der Tod Jaurès‘ immer noch das tragischste Ereignis des August 1914, jenes schrecklichen Monats in den Annalen der Menschheit.

Als das Telegramm über den Mord an Jaurès eintraf, fragten sich viele – auch ich (noch in Wien) – nach einer ersten Minute der Verblüffung: War es die Hand der russischen Reaktion? An dieser Vermutung ist nichts Unwahrscheinliches. Jaurès war nicht nur ein Gegner des Bündnisses der Republik mit dem Zarismus; er setzte sich in diesem Moment das Ziel, dass Frankreich sich nicht in den Krieg einmische. Und mit jener Leidenschaft, die politischen Opportunismus mit revolutionärem Idealismus verbindet, strebt er nach seinem Ziel, bereit, alle Hebel in Bewegung zu setzen: die Kräfte seiner parlamentarischen Beredsamkeit, die Macht seines Einflusses hinter den Kulissen auf die Regierung, auf seinen „Schüler“ Viviani und den revolutionären Ansturm der Massen. Jaurès stand als ein mächtiges Hindernis auf dem Weg des französischen Chauvinismus und der Zarendiplomatie. Wenn er nicht aus dem Weg geräumt würde, wäre nicht gewährleistet, dass Frankreich mit der Politik Nikolaus‘ und Poincarés Schritt halten kann. Und Jaurès wurde durch die Kugel eines französischen Royalisten beseitigt, hinter der man, wenn man eine Zeitlang gut sucht, wahrscheinlich den Schatten eines der Mitarbeiter des Zivilgenerals Harting finden kann …

Jaurès war ein Ideologe – in dem Sinne, in dem der jetzt vergessene französische Soziologe Alfred Foullier von Ideen-Antreibern sprach. Napoleon sprach mit Verachtung von „Ideologen“ (das Wort selbst scheint von ihm zu stammen). Indessen war Napoleon selbst ein Ideologe – des neuen Militarismus. Der Ideologe passt sich nicht einfach an die Realität an, sondern er leitet von ihr seine „Idee“ ab und bringt diese Idee zu ihren letzten Schlussfolgerungen. Das verschafft ihm in gewissen Epochen solche Erfolge, wie sie ein vulgärer Praktiker nie haben kann, aber es bereitet für ihn auch schwindelerregende Abstürze vor.

Jaurès ist nicht mehr! … Er hat die verflossene Epoche des französischen Sozialismus am besten zum Ausdruck gebracht, er hat ihre „Idee“ umgelenkt – und im Dienste dieser Idee ist er nie auf halbem Wege stehen geblieben. So hat er in der Epoche der Dreyfus-Affäre die Idee der Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Linken zur letzten Schlussfolgerung geführt und mit all seiner Leidenschaft Millerand unterstützt, einen vulgären politischen Karrieristen, in dem überhaupt nichts von Ideologie, ihrem Mut und ihrer Uneigennützigkeit zu finden war und ist. Auf diesem Weg geriet Jaurès in eine politische Sackgasse, wiederum mit der Blindheit eines Ideologen, der bereit ist, vor vielen Dingen die Augen zu verschließen, um seinen Ideen-Antreiber nicht im Stich zu lassen. Dies ist nicht die Blindheit eines politischen Maulwurfs, der aus seinem Loch kriecht, sondern die Verblendung eines Adlers, dessen Auge von einer Idee – der Sonne – verbrannt ist. Mit echter ideologischer Leidenschaft kämpfte Jaurès gegen den Militarismus und die Gefahr eines europäischen Krieges. In diesem Kampf – wie auch in jedem anderen Kampf – wendete er Methoden an, welche sich nicht aus der Natur des Klassenkampfes des Proletariats entflossen und die einem marxistischen Politiker zu Recht unzulässig oder zumindest gewagt erscheinen müssen. Er verließ sich in hohem Maße auf sich selbst, auf seine persönliche Kräfte, und in den Wandelgängen des Parlaments traf er die Minister und drückte sie mit dem Gewicht seiner Argumente an die Wand. Er scheint sich stark auf seinen persönlichen Einfluss auf Premier Viviani verlassen zu haben, und bei einer Sitzung des Internationalen [Sozialistischen] Büros in Brüssel, wenige Tage vor seinem Tod, trat er als Garant für die friedliebende Haltung der französischen Regierung auf.

Aber die Verhandlungen mit den Ministern und die Beeinflussung der Diplomaten in den Wandelgängen entsprangen keineswegs seinem Wesen und wurden von ihm keineswegs zu einer Doktrin ausgebaut: Er war nicht Doktrinär des politischen Opportunismus, er war Ideologe. So wie er heute Viviani überredet und beschwört, vom Zarismus zurückzuweichen, so kann er morgen auf den Plätzen die revolutionären Massen gegen die Kriegsregierung mobilisieren. Im Dienste der Idee, die ihn beherrschte, konnte er die opportunistischsten und die revolutionärsten Mittel mit der gleichen Leidenschaft und Unnachgiebigkeit eines Ideologen einsetzen, und wenn die Idee, die ihn besaß, dem Charakter der Epoche entsprach, konnte er Ergebnisse erzielen wie kein anderer. Aber er ging auch katastrophalen Niederlagen entgegen. Wie Napoleon kannte er in seiner Politik sowohl Austerlitz als auch Waterloo.

Jaurès ist nicht mehr … Der europäische Krieg ist über die Leiche Jaurès‘ hinweggegangen! Und dabei hätte gerade die Epoche, die sich in schattenhaften, aber grandiosen Umrissen hinter dem Krieg auftut, Jaurès die Gelegenheit gegeben, seine Kraft bis zum Ende zu entfalten. Er kämpfte für den Frieden, für die Demokratie und für die Reformen, aber Krieg und Revolution hätten ihn weniger überrascht als irgendeinen der „Greise“ der Internationale. Der Doktrinär erstarrt an der Theorie, deren Geist er abtötet; der opportunistische Routinier erlernt die bekannten Fertigkeiten des politischen Handwerks und fühlt sich nach der Epochenwende wie ein Fisch am Ufer. Ein Ideologe von so genialem Stil wie Jaurès ist nur in dem Moment machtlos, in dem die Geschichte ihn ideenmäßig entwaffnet, aber er ist auch in der Lage, sich umzurüsten, einen neuen Ideen-Antreiber anzunehmen und in den Dienst einer neuen Epoche zu stellen.

Mit dem Tod Jaurès‘ wurde der französische Sozialismus in einem viel größeren Maße enthauptet als die deutsche Sozialdemokratie mit dem Tod Bebels. Nicht weil die absolute Bedeutung Bebels, seiner Persönlichkeit und seines Werkes geringer war als die Jaurès‘, sondern weil die dramatischere Natur der französischen Politik, einschließlich auch der sozialistischen, viel mehr von den Qualitäten und Eigenschaften der führenden „repräsentativen“ Persönlichkeit abhängt als in Deutschland – vor allem in jener Epoche der molekularen Kräfteansammlung, deren genialer Ausdruck August Bebel bis zuletzt war und blieb.

Mit dem Mord an Jaurès fiel ein großer Berg von den Schultern des französischen Chauvinismus und der russischen Diplomatie. Ungelöst bleibt zunächst die Frage, wer den Revolver des unbedeutenden Fanatikers geladen hat….

14. August.

Ende September 1905 lebte ich (oder vielmehr: verbarg ich mich) vorübergehend in Finnland, am Ufer eines Sees, in den Wäldern, in einer einsamen Pension, welche Rauha hieß, finnisch für „Frieden“. Das war kurz nachdem Nikolai Dobroskok, der über mich Bescheid wusste, als Provokateur entlarvt worden war. Das Waldhotel war für mehrere hundert Gäste ausgelegt und in der Saison voll belegt. Aber im September war es leer. Das Personal wurde auf ein Minimum reduziert, aber die wirtschaftliche Maschinerie war in Bewegung – es schien, dass das für mich war. Die Hausherrin, herzkrank, kämpfte mit dem Tod; ihre Kräfte wurden durch Champagner aufrechterhalten. Ich habe sie jedoch nie gesehen. Der Hausherr war geschäftlich nach Helsingfors gefahren. Während seiner Abwesenheit starb die Hausherrin. Der Oberkellner ging in die Stadt, um den Hausherrn zu suchen. Am Tisch in dem riesigen Speisesaal bediente mich ein etwa 14-jähriger Junge. Dies war der einzige lebende Mensch, den ich zwei oder drei Tage lang traf … Aber in dieser Zeit schwoll in Russland die Welle an. Als ich aus dem verlassenen und bereits verschneiten Park zu dem verlassenen Haus kam, in dem die tote Hausherrin auf dem Tisch lag, fand ich einen Stapel Petersburger Zeitungen und darin eine Widerspiegelung jener Brandung, welche zum Manifest des 17. Oktober führte. Es gab einen beeindruckenden, fast fantastischen Widerspruch zwischen der verlassenen Rauha-Pension mit ihrer toten Hausherrin und dem Sturm, dessen Widerhall die Petersburger Presse gebracht hatte.

Anfang Oktober verließ ich den „Frieden“ und kam in Petersburg an. Am Abend desselben Tages besuchte ich ein Meeting in der Universität und sprach am folgenden Tag in der Aula des Technologischen Instituts. Das verlassene Hotel Rauha verschwand für lange Zeit aus meinem Gedächtnis. …

Die Schweiz, in der wir uns jetzt vor dem Krieg verstecken müssen, ist auf ihre Art gleichfalls ein Hotel Rauha. Natürlich wird auch hier die Armee mobilisiert, auch hier stellt sich die Frage der Existenz des Staates, und in Basel ist sogar den Lärm der Kanonaden hörbar – aber dennoch gleicht die Schweiz, die hauptsächlich mit einem Übermaß an Käse und einem möglichen Mangel an Kartoffeln beschäftigt ist, vorläufig einer Hoteloase im Feuerring des Krieges. Jeden Tag bringen Telegramme Nachrichten über Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung, und wer weiß, vielleicht ist die Stunde sehr nahe, bis man das Schweizer Hotel Rauha verlassen und sich erneut mit den Petersburger Arbeitern im Saal des Technologischen Instituts treffen kann.

15. August.

Die deutsche bürgerliche Presse ist voll des Lobes für die deutsche Sozialdemokratie, die – so überraschend für die Herren der Lage – mit so betonter Schamlosigkeit ihr patriotisches Examen bestanden hat. Die „Vossische Zeitung“ erzählt, wie Haase auf der Tribüne erschien, wie er den Mund aufmachte, wie alle an seinen Lippen hingen, welche Begeisterung alle nach seiner Rede ergriff: es gibt keine Klassen, keine Parteien mehr, es gibt nur Deutsche, die ihr Vaterland lieben. Es wird berichtet, dass der Abgeordnete Wendel, derselbe, der zum großen – natürlich gekünstelten – Entsetzen des patriotischen bürgerlichen Pöbels kürzlich seine Parlamentsrede über die internationale Politik mit dem Ruf „Vive la France!“ beendete, dass eben dieser Wendel sich freiwillig zur deutschen Armee gemeldet hat, usw. usw. Die bürgerliche Presse der Entente-Länder greift diese Meldungen auf und druckt sie zur Belehrung der eigenen Sozialisten. Zweifellos gibt es viele Lügen in den Geschichten der patriotischen Presse. Aber der Boden, auf dem das alles steht, ist inzwischen so tief, dass man beim Lesen nicht mehr weiß, wo die politische Realität aufhört und die erbaulichen Lügen beginnen. Und es wird immer deutlicher, was für ein schauderhaftes Verbrechen die deutsche Sozialdemokratie mit ihrer Stimmabgabe für die Kriegskredite begangen hat. Ich bin heute den „Vorwärts“ für die Zeit vom 29. Juli bis zum 5. August durchgegangen (weitere Ausgaben sind hier noch nicht eingegangen) und sehe mit voller Klarheit, wie prinzipienlos die Stimmabgabe der SPD-Reichstagsfraktion war, wie sehr die offizielle Begründung für diese Stimmabgabe nicht aus dem gesamten Verhalten der Partei und insbesondere des „Vorwärts“ hervorgeht. Die von Haase verkündete Erklärung wird in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie eine noch größere Rolle spielen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass in der Fraktion selbst eine beeindruckende Minderheit gegen die Zustimmung zu den Krediten war. Und es besteht noch weniger Zweifel daran, dass ein empörter Protest gegen das verräterische Votum der Fraktion aus den Eingeweiden der Partei aufsteigen wird, sobald der erste Augenblick der Erstarrung vorüber ist.

… Mich unterbrach die Mitteilung darüber, dass Karl Liebknecht, der als Reserveoffizier zur Fahne einberufen worden sei, sich geweigert habe, am Krieg teilzunehmen, den Deutschland jetzt führte. Er sei erschossen worden. Aus diesem Anlass habe es in Berlin eine Demonstration gegeben. Das Heer habe gefeuert. Viele Menschen seien getötet worden, auch Rosa Luxemburg. All diese Informationen bedürfen der Nachprüfung und Bestätigung, denn sie gelangten über Kopenhagen nach London, von dort nach Rom und von Italien hierher. Aber die Mitteilung über Liebknecht findet eine mittelbare Bestätigung in der offiziellen deutschen Gegendarstellung, die besagt, dass es in Berlin keine Demonstration mit Blutvergießen gegeben hat. Die Erschießung Liebknechts fand also statt? Folglich gab es eine Demonstration – ohne Blutvergießen? Ist es möglich, dass sie sich auf ein Verprügeln beschränkt hat? Falls Liebknecht tatsächlich fiel, dann wahrlich zur Rettung der Würde und Ehre der deutschen Sozialdemokratie!

17. August.

Krieg und Frieden! Ich habe heute meine Jungen in der Schule untergebracht. Ich trat an diese Sache mit Unruhe heran, weil ich fürchtete, dass es Schwierigkeiten mit den metrischen Zeugnissen geben würde, die sie nicht haben, wie wir auch allgemein keine Dokumente haben. Aber dieses Mal hat sich die „Republik“ gerechtfertigt. Sie fragten, wie die Jungen hießen, wie alt sie waren, wo sie gelernt hatten. Über Papiere kein Wort und kein Wort über das „Glaubensbekenntnis“ des sechsjährigen Serjoscha. Der Älteste wurde in der dritten Klasse eingeschrieben, der Jüngste in der ersten, und in einer Stunde saßen beide bereits an ihren Pulten. „Welche Lehrbücher brauchen sie?“ „Keine, wir werden ihnen alles geben, was sie brauchen.“ So stark der Geist der kleinbürgerlichen Polizeierei in dieser archaischen Republik auch sein mag, die Schule zumindest haben sie befreit.

18. August.

Die Mitteilung bezüglich der Erschießung Karl Liebknechts und der blutige Niederschlagung der Demonstration in Berlin wird von der deutschen Telegrafenagentur kategorisch dementiert.

Hier war gestern Molkenbuhr, welcher folgende Fakten mitteilte: in der Fraktion waren 36 Abgeordnete (⅓) dafür, gegen die Kredite zu stimmen, etwa 15 für Enthaltung, so dass die Mehrheit nur wenige Stimmen betrug. Aber die Radikalen waren sich ihrer Überlegenheit so sicher, dass sie vorher eine Entschließung zur bedingungslosen Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit fassten, und die Mehrheit von einigen Stimmen versetzte der Internationale den schwersten Schlag in der gesamten Geschichte des Sozialismus. Selbstverständlich verliert die politische Tatsache, dass die deutschen Sozialdemokraten für Kredite zur gegenseitigen Ausrottung von Völkern stimmten, ja sich dabei noch zynisch auf das Prinzip der Internationale beriefen, keineswegs ihren objektiv beschämenden Charakter durch die Tatsache, dass fast die Hälfte der Fraktion sich schämte und zögerte. Aber die ziffernmäßigen Gruppierungen innerhalb der Fraktion sind an sich schon sehr musterhaft für die Zukunft: welche entrüstete Reaktion würde diese Stimmabgabe in der Masse des Proletariats hervorrufen, wenn sie sogar innerhalb der Fraktion, dem opportunistischsten Organ der Partei, fast die Hälfte der Mitglieder gegen sich hatte. Aber gleichzeitig zeigt dasselbe Verhältnis, wie eine Masse von Sozialdemokraten, noch dazu an der Spitze der Partei, die Grundprinzipien des revolutionären Sozialismus mit völliger Gleichgültigkeit behandelt und bereit ist, ihnen abzuschwören, gerade dann, wenn sie von „abstrakten“ Leitprinzipien zu Fragen von Leben und Tod werden.

26. August.

Am dritten Tag verlas der Menschewik Martynow hier auf einer gemeinsamen Versammlung des örtlichen russischen sozialdemokratischen Publikums einen Bericht über die Internationale zur Zeit des Krieges.

Sein Versuch, die Kapitulation der Sozialdemokratie als einen überraschenden und zufälligen Schritt zu erklären, der durch die allgemeine „Panik“ herbeigerufen wurde, war im höchsten Grade unstichhaltig. Vor dem Krieg, erläuterte Martynow, bestand volle Übereinstimmung in den Grundsätzen der internationalen Politik, und diese Übereinstimmung wurde auf dem internationalen Kongress in Basel so klar demonstriert; aber von dem Moment an, als die Beziehungen zwischen den Staaten durch den Krieg abbrachen, fanden sich die Nationen voneinander und von der ganzen Welt völlig isoliert. Europa ist angefüllt von Gespenstern, es herrschte eine allgemeine Panik, und in diesem Chaos erwies sich der Selbsterhaltungstrieb als die einzige gebieterische Kraft – die Sozialdemokratie geriet in dessen Gefangenschaft. Mit anderen Worten: Als die Regierungen in eine allgemeine Panik geriet, wurde auch das Verhalten der Sozialdemokratie panisch.

Diese Erklärung stellt einen einfachen Pleonasmus dar. In der Panik, die nach der Kriegserklärung herrschte, handelten und handeln neben der Sozialdemokratie doch auch andere Kräfte: Regierungen, Diplomaten, Generalstäbe, Banken, bürgerliche Parteien, die bürgerliche Presse. Alle diese Kräfte verfolgen in den Wirren der Mobilisierung und des Krieges ihre Politik, die sich aus ihren Interessen ableitet und auf ihrer ganzen Vorbereitungsarbeit beruht. Die „Frankfurter Zeitung“ schreibt, dass wir der majestätischsten und schönsten (!!!) Vorstellung beiwohnen, die die Welt je gesehen hat. Für sie ist dies tatsächlich der höchste Aufschwung, den die moderne Gesellschaft unter ihrer politischen Hegemonie erreichen kann. Für sie ist die nationale Panik der rettende psychologische Kitt, der die gesamte Masse des Volkes an sie bindet. Im und durch den Krieg erreichen Monarchien, Parlamente, kapitalistisches Soldatentum und die bürgerliche Presse ihren historischen Höhepunkt. Und in dieser Bewegung, die uns in den Grundlagen unserer historischen Mission feindlich gegenübersteht, zergeht die internationale Sozialdemokratie beinahe spurlos. Martynows Erklärung dieser Erscheinung kann eine bestimmte Bedeutung bekommen, wenn wir weitergehen und sagen: welchen riesigen Vorteil gibt der Bourgeoisie die Tatsache, dass sie die politisch herrschende Klasse ist, die sich auf ihren Staatsapparat stützt und genau die nationale Panik in ihren Dienst zwingt, als deren willenloser Gefangener sich das Proletariat erweist. Aber diese Erwägung, die an sich wahr ist, löst nicht jene Frage, die gerade gelöst werden muss: wohin das halbe Jahrhundert Arbeit des internationalen Sozialismus geraten ist.

Ich habe oben†† ausführlich darüber gesprochen, welche genauen Bedingungen in der vorherigen Epoche ihren tragischen Ausdruck in jener verbrecherischen Rolle fanden, die die Internationale bei der Eröffnung des Krieges spielte. Hier muss ich nur einige zusätzliche Erwägungen aufschreiben.

Die sozialdemokratische Arbeit in den Parlamenten, Gemeinderäten, in den Vorständen der Gewerkschaften und Genossenschaften schuf riesige Kader der Arbeiterbürokratie. Die leitenden Spitzen dieser Bürokratie befanden sich im ständigem geschäftlichen Umgang mit den führenden Vertretern der bürgerlichen Gesellschaft. Wie unversöhnlichen (im formellen Sinne) Charakter die Oppositionstaktik der Sozialdemokratie auch trug, die beständige Zusammenarbeit mit bürgerlichen Politikern – im Verlauf von Jahren und Jahrzehnte – in der geschlossenen „Geschäfts“-Atmosphäre von Parlamenten, Gemeinderäten, unzähligen Kommissionen, Schlichtungskammern usw. usw., konnte nicht umhin, sich im Bewusstsein der Vertreter der Arbeiterklasse widerzuspiegeln, ihren Gesichtskreis verengend, spezialisierend, einschränkend, sie aufnahmefähig für unmittelbare bürgerliche Suggestionen machend. Der Einfluss der bürgerlichen öffentlichen Meinung ist umso siegreicher, je mächtiger der nationale Parlamentarismus, je reicher die historischen Traditionen und die politische Erfahrung der nationalen Bourgeoisie sind. In der Kunst, die Vertreter der Arbeiterklasse zu demoralisieren und ihren Interessen zu unterwerfen, kennt die englische Bourgeoisie nicht ihresgleichen. Ihr folgt die französische Bourgeoisie. Die politischen Reize der deutschen Bourgeoisie sind unvergleichlich niedrigerer Sorte. Dies erklärt in beträchtlichem Maße auch das mächtige Wachstum der deutschen Sozialdemokratie. Aber die kolossalen Ziffern des deutschen Kapitalismus und Militarismus, die Tag für Tag in der Presse, im Parlament und in seinen Ausschüssen präsentiert wurden, konnten nicht umhin, die sozialdemokratische Bürokratie zu beeindrucken, konnten nicht umhin, ihre Vorstellungskraft niederzubeugen und sie auf diese Weise, d.h. bei Beibehaltung ihrer formellen Unabhängigkeit, für von oben kommende Einflüsse aufnahmefähig zu machen.

Ein tiefgreifendes Korrektiv war die Stimmung der Arbeitermassen. Jener innerhalb bestimmter Grenzen unvermeidlich und aus dem Wesen der Beziehungen selbst hervorgehende parlamentarische Opportunismus, dessen Methoden in den Köpfen der sozialdemokratischen Deputierten, Zeitungsleute und Bürokraten einen so großen Platz einnehmen, sagt dem Herzen der Massen überhaupt nichts: sie reagiert nur auf die Stimme der Klassenunversöhnlichkeit. Der durchschnittliche sozialdemokratische Parlamentarier führt in bestimmten Sinne eine zwiespältige Existenz: In der Parlamentskommission spricht er eine völlig andere Sprache als in der Arbeiterversammlung. Aber es ist diese Doppelzüngigkeit die ihn davor bewahrt, im bürgerlichen Parlamentarismus endgültig gesichtslos zu werden.

Was aber machte die Mobilisierung?

Auf der einen Seite verzehnfachte sie den Druck der bürgerlichen öffentlichen Meinung auf die Spitzen der Sozialdemokratie, auf der anderen entzog sie ihr die rettende Kontrolle durch die organisierten Massen. Die deutschen Arbeiter waren mit Organisation und Disziplin aufgewachsen und erzogen worden. Das unkontrollierte Schaffen einer initiativen Minderheit – eine Taktik, die die französischen Syndikalisten einst zu demonstrieren versuchten – ist der Erziehung und dem Geist des deutschen Proletariats völlig fremd. Selbstverständlich hat auch jeder Nachteil seinen Wert: Außerhalb richtig wirksamer Organisationen vermag sie zu wenig Widerstandskraft gegen äußeren Druck zu entwickeln. Die militärische Mobilisierung riss die Arbeiter mechanisch und mit einem Schlag aus ihren industriellen und Organisationszellen: aus den Werkstätten, den Gewerkschaften, den politischen Organisationen usw. und schob sie in die neuen durch Feuer und Eisen zusammengeschweißten Zellen der Regimenter, Brigaden, Divisionen und Korps, die entstanden.

Die Massen erwies sich als politisch gelähmt, ihre Vertretung unter dem mächtigen Druck der nationalen öffentlichen Meinung isoliert. Die Erziehung, die die Sozialdemokratie von der vorangegangenen Epoche erhalten hatte, gab ihr weder einen tatsächlich internationalen Gesichtskreis noch eine revolutionäre Stählung. Nur die Verbindung all dieser Bedingungen erklärt auch, warum die „Panik“ die Sozialistische Internationale in den Strudel des wütenden Nationalismus zog – beinahe ohne Widerstand oder Abwehr.

1. September.

Ein gewisser Reinhold Günther, Dr. phil., ein Schweizer Oberst, dessen Buch „Heerwesen und Kriegsführung“ mir zufällig in die Hände fiel, bespricht u.a. die moralischen Bedingungen des Krieges, d.h. den Einfluss der öffentlichen Meinung usw. Als besonders verderblich erachtet Günther die Schriften oppositioneller Journalisten, die Misstrauen in die militärische und zivile Macht säen. Deshalb empfiehlt der ehrbare Doktor der Philosophie, alle diese Schreiberlinge für die Dauer des Krieges in einer sicheren Festung unterzubringen, wo sie sich der inneren Beschaulichkeit hingeben könnten. Ein Schweizer Oberst preußischer Denkungsart (im Allgemeinen sind Schweizer Oberste, wie auch der derzeitige Schweizer General Willy, zum größten Teil preußisch geprägt) könnte tatsächlich vorschlagen, alle oppositionellen Schreiberlinge in die neutrale Schweiz auszuweisen. Auch hier muss man sich der inneren Beschaulichkeit hingeben, und die vollkommen unerträgliche Form des Tagebuchs ist nun die einzige Möglichkeit, die Früchte dieser inneren Beschaulichkeit zu sichern. Und umso schärfer stellt sich die Frage: Wie aber weiter? … Man kann auf keinen Fall bezweifeln, dass das einfache, aber gültige Rezept des „Doktor“ Günther in unserer Epoche der „Befreiungskriege“ breite Anwendung finden wird. Krieg verträgt sich schlecht mit den Freiheiten der Schreiberlinge.

★ ★ ★

Es ist nun schon einige Tage her, dass Belgien nicht mehr existiert. Ich war in Brüssel am 20. Juli zur „Vereinigungs“-Konferenz der russischen Sozialdemokratie, genau zwei Wochen vor dem Ausbruch des gesamteuropäischen Krieges. Der belgische politische Himmel schien damals vollkommen wolkenlos zu sein. Ich wohnte in einem kleinen Hotel mit dem historischen Namen Waterloo. Aber nichts als der Name erinnerte nicht nur im Hotel, sondern in ganz Brüssel an die Weltgeschichte. Es war heiß und ruhig. Der Konferenz (16.-19. Juli), die im Maison du Peuple tagte, saß Vandervelde vor, manchmal auch Huysmans; und Vandervelde war damals noch der Gedanke unendlich fern, dass er in wenigen Tagen nicht einfach Minister (dieser Gedanke war ihm keineswegs fremd), sondern Minister für nationale Verteidigung werden sollte. In einer Sitzung der Konferenz sagte Vandervelde als Beispiel für eine taktische Meinungsverschiedenheit, indem er abwechselnd mit der Hand auf zwei seiner Mit-Präsidiumsmitglieder deutete: „Nehmen Sie uns – in der Frage der Beteiligung an der bürgerlichen Regierung haben wir unterschiedliche Meinungen: Anseele ist dafür, Huysmans ist dagegen, ich sage, es hängt von den Umständen ab.“ Und jetzt brachen „Umstände“ herein, so dass Vandervelde sich dafür aussprach – und nun, mit dem belgischen Hof sich in Antwerpen vor den Weltereignissen verbarrikadierte; alle taktischen Farbtöne versanken im Patriotismus.

Im Juli feierte Belgien irgendein Jubiläum, es scheint, den hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit. Ich beobachtete vor dem Hotel Waterloo stehend eine kirchliche Prozession. Sie schien kein Ende zu nehmen. Pfaffen mit langen Nasen, dicken Kinns und grob-sinnlichen Gesichtern, die unsinnige weiße Umhänge mit Spitzen trugen, die wie Frauenkleidung aussahen. Verschwitzte Musiker in Zylindern. Gruppen von betenden Männern mit Rosenkränzen, deren Gesichter stumpf und jämmerlich waren. Fahnenträger, erneut Musiker, ein Chor von Jungen in Rot, Pfaffen, Christusstatuen, ein Mädchenchor. Eine Statue der Jungfrau Maria in Samt und Brokat, eine große geschmacklose Puppe, und von ihr in alle Richtungen Bänder, gehalten von eingeschüchterten Mädchen aus irgendeiner klerikalen „Erziehungs“-Krippe. Erwachsene Mädchen in Weiß schleppten Banner an schweren Stangen vor sich her. Jungen trugen einen großen Korb mit Konfetti und streuten bunte Papiere auf den Weg. Ein Baldachin und darunter offensichtlich ein Bischof – irgendwer auf dem Trottoir auf Knien. Im Allgemeinen eine abscheuliche Verbindung aus Torheit, Sinnlichkeit und Schamlosigkeit.

Wie ungleichmäßig vollzieht sich die fortschreitende Bewegung der Menschheit, und welch ungeheuren Zug von Finsternis und Barbarei muss die Avantgarde hinter sich herziehen. Wer würde beim Anblick dieser fromm-vulgären Prozession sagen, dass wir nach Darwin und Marx leben…?

★ ★ ★

Heute ist das vierte Versammlung des russischen sozialdemokratischen Publikums in Zürich. Ich bin gestern nicht hingegangen und werde auch heute nicht hingehen: die Debatte hat sich schnell erschöpft und kann, außer Wiederholungen, nichts bringen. Jedenfalls hat sich das Faktum, das mir schon Anfang August in die Augen gesprungen war, abschließend bestätigt: der unbestrittene Anstieg von Nationalismus und Patriotismus im russländischen sozialdemokratischen Milieu. Dieser Patriotismus ist schamhaft, ausweichend und verlogen: denn die neu aufgetauchten Patrioten sind sozusagen noch Emigranten der Romanow-Rasputin-Macht. Deshalb verdecken sie ihren Patriotismus auf der einen Seite hinter der Anteilnahme für das „demokratische“ Frankreich, auf der anderen Seite hinter der Empörung über die Niedertracht der deutschen Sozialdemokratie. Die Erklärung der Reichstagsfraktion gibt ihnen eine billige Gelegenheit, unter dem Vorwand eines falschen Radikalismus die Deutschen im Allgemeinen zu beschimpfen, während sie unter der Flagge der Sympathie mit Frankreich feige die Tendenz eines französisch-russischen Bündnisses verfolgen. Diese abstoßende Stimmung ist in allen Fraktionen zu beobachten, und in unseren Versammlungen sind die Fraktionsaufteilen tatsächlich aufgehoben worden; an ihre Stelle ist die Wasserscheide zwischen Nationalisten und Internationalisten klar nach vorne gerückt.

* Das Haus der Sozialdemokratischen Partei, in dem das ZK, die „Arbeiter-Zeitung“ und andere Institutionen untergebracht waren. – L.T.

** Wir lassen die folgenden Seiten des Tagebuchs weg, da sie im Kapitel (sic) „Der Krieg und Internationale“ weiter ausgeführt werden. – L.T.

***In diesen Zeilen wird die Kriegsrolle der Intelligenz unterschätzt, die später die unteren und mittleren Offiziersposten in der Armee besetzte. Die Intellektuellen konnten in den Jahren der Konterrevolution eine entscheidende bürgerliche Unwandlung erleben und zeigten sich in verschiedenen Bereichen, auch in Führungspositionen, von liberal-imperialistischen Tendenzen durchdrungen. Die patriotische Mobilisierung der bürgerlichen Öffentlichkeit, die militärisch-technische Mobilisierung der Industrie und die aktive Rolle der bürgerlichen Intelligenz in der Armee verliehen dem Zarenrussland eine beträchtliche Standfestigkeit im Krieg. Letzten Endes bedeutete dies jedoch nur einen Aufschub der Niederlage. Im Kern wurde die obige Analyse durch die Ereignisse bestätigt. Der Unterschied erwies sich nur im Zeitpunkt.

IV. 1922. L. T.

Eine bekannte Figur der Zaren-Geheimpolizei. – LT.

†† Enthalten im Kapitel „Der Krieg und die Internationale“. – L.T.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert