Leo Trotzki: Brief an Paul Henri Spaak

[14. April 1934, eigene Übersetzung des französischen Textes in Cahiers Léon Trotsky, Nr. 16, Dezember 1983, S. 102 f., verglichen mit der englischen Übersetzung in Revolutionary History, 7. Jg., Nr. 1]

Werter Genosse!

Ich habe Ihren Brief mit einer leider durch die Ungenauigkeit der Adresse verursachten Verspätung erhalten. Vielleicht kommt meine Antwort erst nach der Entscheidung. Sei’s drum: Ich hoffe trotzdem, dass die Entscheidung richtig war.

Die Dinge überstürzen sich in Belgien so wie anderswo. Die Arbeiterklasse hat nur noch wenige Monate Zeit für den ersten Schritt ihrer Umgruppierung. Sie sagen, dass die Lage für die Gruppe der Action Socialiste schwierig sei: Der innere Feind mache entsetzliche Fortschritte, die Arbeiterpartei sei im Niedergang begriffen und eine neue Partei müsse einen schweren Start haben. Das ist richtig, aber man kann sich das historische Umfeld nicht aussuchen. Die unvergleichlichen Schwierigkeiten, vor denen die Arbeiterklasse jetzt steht, nehmen eine eminent konzentrierte Form für den linken Flügel der Arbeiterklasse an, und dennoch ist dieser linke Flügel1 der einzige Schlüssel zur Rettung. Um die eine oder andere praktische Frage zu lösen, muss man von diesen allgemeinen Überlegungen ausgehen. Die POB verfällt und verfällt von Woche zu Woche. Da die Lehren von Deutschland und Österreich sie nicht wieder aufgerichtet haben2, haben sie sie noch mehr verrotten lassen, und je mehr die Partei verfällt, desto unnachgiebiger wird sie gegenüber der Linken und wird sie weiter werden. Jeder Tag, den die Linke verliert, wird von der Rechten gewonnen, das heißt vom Faschismus.

Die Gewerkschaftsbürokratie ist am engstirnigsten, reaktionärsten und korruptestes. Gerade deshalb dominiert sie die Partei umso mehr, je schärfer die Widersprüche werden und eine klare Antwort verlangen.

Natürlich ist es bedauerlich, dass die Linken keine organisierten Stützpunkte in den Gewerkschaften geschaffen haben, aber es ist noch nichts verloren: Die Fragen, wie sie sich in der gegenwärtigen Situation stellen, sind keine Partei- oder Gewerkschaftsfragen. Es sind Fragen, die das Schicksal der gesamten Arbeiterklasse betreffen. Sie umfassen die Arbeiterpartei ebenso wie die Gewerkschaften. Deshalb haben die Gewerkschaftsbürokraten Angst davor, von der Masse überrannt zu werden, wenn sie ihre Führer finden, und genau deshalb haben diese Korrumpierten und Korrumpierer Angst vor Ihnen. Sie sind gezwungen, Sie zu verdrängen, zu zerquetschen und zu zerstören. Ihnen Zugeständnisse zu machen würde bedeuten, die gesamte3 Politik des Austromarxismus gegenüber Dollfuß in kleinerem Maßstab zu wiederholen. Die reaktionären Bürokraten würden sich auf Ihre Zugeständnisse stützen, um Sie zu diskreditieren, Ihnen weitere abzuringen und Sie übermorgen unter für Sie viel ungünstigeren Bedingungen als heute zu strangulieren.

Geben Sie nicht nach. Im Gegenteil: gehen Sie in die Offensive, erklären Sie der Arbeiteravantgarde, dass es die schlimmste kapitalistische Reaktion ist, die die Gewerkschafts- und „sozialistischen“ Bürokraten benutzt, um präventiv jeden Geist der Revolte und der revolutionären Würde im Proletariat zu ersticken und so den faschistischen Henkern ihre Arbeit zu erleichtern.

Meine tiefste Überzeugung sagt mir ohne das geringste Zögern: Geben Sie nicht einen einzigen Zoll Boden preis. Natürlich werden Sie nicht die formelle Initiative zum Bruch ergreifen und die Verantwortung dafür den Bürokraten zuschieben, aber Sie werden in voller Freiheit handeln und sich von hohen politischen Zielen leiten lassen und nicht von den kleinen juristischen Hinterhalten der Bürokraten. Man muss die Linken mobilisieren, um der Partei zu helfen, keinen Augenblick verlieren, sonst wird man in einigen Monaten unter der Dampfwalze des Faschismus stehen und dann bleibt nichts anderes übrig, als die Nachlässigkeit und die Zeitverschwendung zu verfluchen, die man jetzt begangen hat.

Werter Genosse, Belgien und Frankreich, das ist wirklich der letzte Schützengraben des Proletariats. Wenn meine Meinung auch nur den geringsten Einfluss auf die zu treffende Entscheidung haben kann, sage ich Ihnen: „Geben Sie nicht nach! Diese Stunden werden nie wieder kommen!4 Mobilisieren Sie Ihre Reihen! Entfesseln Sie die Offensive! Haben sie keine Gnade mit der Feigheit und der Fäulnis, die von oben das ausgezeichnete und mächtige belgische Proletariat lähmt. Ihre Gruppe kann eine historische Rolle spielen, jetzt oder nie“.

Sie werden mir den fast pathetischen Ton dieser Zeilen verzeihen. Dieser Ton wird natürlich durch den Ernst der Umstände diktiert sowie durch die absolute Klarheit, mit der die Konsequenzen Ihrer Haltung sich vor meinen Augen darstellen.

Meine besten Grüße und Wünsche.

P.S. Ihr Interview für „Le Matin“ versichert mir, dass mein Brief mehr oder weniger überflüssig ist. Sie haben wohl die Entscheidung getroffen, bis zum Ende zu kämpfen. Dazu gratuliere ich Ihnen.

1In der englischen Übersetzung: „diese Arbeiterklasse“

2In der englischen Übersetzung: „nicht angegangen wurden“

3Das Wort fehlt in der englischen Übersetzung

4In der englischen Übersetzung: „Es gibt keine zweite Chance!“


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