[1988, Broschüre „Stalinism in Crisis“ (Stalinismus in der Krise), S. 2-5]
Die westliche Presse applaudierte enthusiastisch Gorbatschows Auftritt auf der Sonderparteikonferenz der Kommunistischen Partei im Juni 1988. Sie lobten seine „demokratischen Reformen“, seinen Mut und seine Standhaftigkeit. Viele Arbeiter*innen und junge Menschen in Großbritannien fragen sich jetzt: Wird Gorbatschow wirklich mit dem Bürokratismus aufräumen, werden die russischen Arbeiter*innen nun in den Genuss aller in der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten kommen können? Natürlich fügt die kapitalistische Presse hinzu, dass Gorbatschows „Demokratie“ nicht vollständig sein wird. Oppositionsparteien sind immer noch nicht erlaubt, und das Staatseigentum an der Wirtschaft schränkt das wesentliche demokratische Recht, andere auszubeuten, immer noch stark ein!
Gorbatschow ist nicht dabei, die Elemente der westlichen kapitalistischen Demokratie einzuführen, wo gewählte Regierungen kommen und gehen, aber die Kontrolle über Wirtschaft, Presse und Staat fest in den Händen der herrschenden Klasse bleibt. Aber er wird auch keine wirklichen Schritte in Richtung einer Arbeiter*innendemokratie unternehmen. Wie die gesamte privilegierte bürokratische Elite hat Gorbatschow tödliche Angst vor einer aktiven, wachgerüttelten russischen Arbeiter*innenklasse, die sie zur Rechenschaft zieht.
Die Perestroika zielt darauf ab, eine gewisse Rechenschaftspflicht und Druck auf die obersten Schichten der Bürokratie durch die unteren Beamt*innen und sogar durch die Arbeiter*innenklasse auszuüben. Doch die Herrschaft der bürokratischen Elite bleibt unangetastet. Anstatt dass Entscheidungen im Geheimen von Spitzenfunktionär*innen der Kommunistischen Partei getroffen werden, wird nun eine gewisse Kontrolle eingeführt. Eine neue arbeitende Nationalversammlung, die debattieren und diskutieren wird, soll den alten, simulierten Obersten Sowjet ersetzen, der zweimal im Jahr für drei Tage zusammentrat, um angeblich Entscheidungen zu ratifizieren.
Ein 2250-köpfiger Kongress der Volksdeputierten wird vom russischen Volk gewählt werden, zum Teil aus Gewerkschaften, Jugend-, Frauen- und Kulturorganisationen. Er wird einmal im Jahr zusammentreten, um einen Staatspräsidenten und eine ständige Versammlung von 400 Mitgliedern zu wählen. Dies wird sich auf regionaler Ebene widerspiegeln, wo die mächtigen regionalen Parteisekretäre an die Spitze der regionalen „Sowjets“ treten werden. Die Staatsorgane und nicht die Parteikomitees sollen die Kontrolle ausüben.
Gorbatschow gab sich alle Mühe, der stalinistischen Bürokratie, insbesondere der alten Garde, zu versichern, dass die „führende Rolle der kommunistischen Partei“ beibehalten wird. Auch wenn es mehrere Kandidat*innen für Sitze im Volkskongress oder für regionale Gremien geben kann, werden sie alle Mitglieder der Kommunistischen Partei oder von der KP unterstützte Kandidat*innen sein. Und was sind die Mitglieder der KP anderes als Bürokrat*innen, die Verfechter*innen eines Systems organisierter Privilegien, von dem die Massen eifersüchtig ausgeschlossen sind?
Gorbatschow berief sich sogar auf den Namen Lenin, um zu rechtfertigen, was er mit der „führenden Rolle der Partei“ und der Fortführung des Einparteienstaates meint. Doch Lenin sah sich schweren Herzens gezwungen, andere Parteien zu verbieten, während er versuchte, den Sozialismus in einer „belagerten Festung“ zu erhalten. Angesichts des wirtschaftlichen Boykotts, der bewaffneten Intervention des Imperialismus und des Bürgerkriegs wurden die anderen Parteien nur ausnahmsweise verboten, als sie dazu übergingen, die bewaffnete Reaktion gegen den jungen Arbeiter*innenstaat zu unterstützen.
Einundsiebzig Jahre nach der Russischen Revolution stehen Gorbatschow und die Bürokratie heute an der Spitze des zweitmächtigsten Landes auf dem Planeten. Welche Bedrohung für das staatliche Eigentum an der Wirtschaft könnte von Parteien ausgehen, sogar wenn sie die Restauration des Kapitalismus fordern? Das Verbot alternativer politischer Parteien zielt darauf ab, neue Arbeiter*innenparteien zu verhindern, Parteien, die auf dem Programm Lenins und Trotzkis stehen. Sie würden keine Gefahr für das Staatseigentum darstellen, wären aber eine tödliche Bedrohung für die bürokratische Elite.
Gorbatschow erinnert an die Partei Lenins. Doch zwischen der Kommunistischen Partei Lenins und der Gorbatschows gibt es außer dem Namen keine Gemeinsamkeiten. Lenins Partei umfasste die aufopferungsvollsten, klassenbewusstesten und fortschrittlichsten Arbeiter*innen, die die russischen Massen zur Macht führten. Die KP Gorbatschows ist eine Partei der Bürokrat*innen, Karrierist*innen und Platzhirsche. Auf ihrer untersten Ebene zieht sie diejenigen an, die in der kapitalistischen Gesellschaft Vorgesetzte oder Managementspione wären. Keine klassenbewussten Arbeiter*innen würden ihr beitreten. Wann immer die Massen Osteuropas gegen die Bürokratie in Aktion treten, gehören die Büros der Kommunistischen Partei zu den ersten Opfern ihres Zorns. Sie sehen sie zu Recht als Symbole für die Beherrschung der Gesellschaft durch eine privilegierte Bürokratie.
Natürlich gibt es große Unterschiede zwischen Gorbatschow und den Spitzen der Kommunistischen Partei und den unteren Ebenen. Es gibt 20 Millionen Mitglieder in der russischen Partei. In Ungarn folgten 1956 bei der politischen Revolution zum Sturz der Bürokratie die unteren Ebenen, also die Mehrheit, der KP dem Kampf der arbeitenden Massen. Die Spitzenbürokrat*innen hatten keinerlei Rückhalt in der Gesellschaft mehr. Aber die KPs in Russland und Osteuropa sind immer noch die Parteien der herrschenden Bürokratie.
Die von Gorbatschow vorgeschlagenen Wahlen mit mehreren Kandidat*innen bieten den Arbeiter*innen lediglich die Wahl zwischen den einen oder anderen Bürokrat*innen. Diejenigen, die gewählt werden, werden die Interessen der Bürokratie vertreten und ebenso rücksichtslos gegen jede Bedrohung durch unabhängige, demokratische Organisationen der Arbeiter*innenklasse wie gegen die polnische Solidarność von 1980-1 oder gegen den Kampf der unterdrückten Nationalitäten für das demokratische Selbstbestimmungsrecht vorgehen.
Für Gorbatschow sind „Offenheit“, Wahlen, eine arbeitende Versammlung Waffen gegen die schlimmsten Auswüchse der Bürokrat*innen, gegen die offen Korruptesten oder Trägsten, die die Wirtschaft in die Stagnation treiben. Mit diesen Mitteln hofft er, die beherrschende Stellung der Bürokratie als Ganzes zu schützen.
Lenin versuchte in den letzten Monaten seines Lebens, die Gefahren eines jeden Bürokratismus zu bekämpfen. Er erkannte den Tribut, den Revolution, Bürgerkrieg und die wirtschaftlichen Entbehrungen eines isolierten Arbeiter*innenstaates von der Energie der Massen gefordert hatten.
Die Arbeiter*innendemokratie hängt von der aktiven Beteiligung der Arbeiter*innen an der Leitung aller Aspekte der Gesellschaft ab. Die Bürokratie wuchs in einem Klima des Mangels, des Überdrusses und der Gleichgültigkeit. Da sie bei der Verteilung der knappen Ressourcen an der Spitze der Warteschlange stand, ergriff sie Maßnahmen, um die Beteiligung der Massen zu verhindern. Gorbatschow wird dies nie ändern. Er wird niemals die vier Punkte tolerieren, die Lenin für den ersten Tag eines demokratischen Arbeiter*innenstaates festgelegt hat: Wahl und Abberufung aller Beamt*innen, Rotation der Beamt*innenstellen, kein stehendes Heer, sondern das bewaffnete Volk und keine Beamt*innen dürfen mehr als einen Facharbeiter*innenlohn erhalten.
Kein Teil der Bürokratie wird jemals die Löhne der Arbeiter*innen akzeptieren. Für Führungspositionen sollen offenbar Höchstamtszeiten von zehn Jahren eingeführt werden. Aber werden die Amtsinhaber*innen dann in den Betrieb oder ins Büro gehen, oder werden sie lediglich in eine andere Position innerhalb der herrschenden Elite oder in den bequemen Ruhestand wechseln? Gorbatschows Entschließungen wurden auf der Sonderkonferenz einstimmig unterstützt. Die alte Garde, die befürchtet, dass seine „Reformen“ der Kritik und der Opposition Tür und Tor öffnen werden, ist sich auch der Gefahr von Massenunruhen bewusst, wenn sie ernsthaft versucht, Gorbatschow in dieser Phase zu behindern oder abzusetzen.
Die Arbeiter*innenklasse hegt ein berechtigtes Misstrauen und einen Hass gegen die Bürokrat*innen. Aber nach Jahrzehnten der Unterdrückung gibt es auch eine Haltung, die Gorbatschow und seinen Veränderungen eine Chance gibt. Anfang Februar trugen die Demonstrant*innen in der Unruheregion Berg-Karabach Porträts von Gorbatschow. Sie trugen auch Plakate mit der Aufschrift „Ligatschow ist ein Stalinist“, womit sie sich auf den Führer der Hardliner-Fraktion bezogen. Bislang hat die Perestroika im Alltag der russischen Familien kaum materielle Veränderungen gebracht. Die Warteschlangen und Engpässe haben sich nicht gemildert. In dem Maße, in dem Gorbatschow die eigentliche Perestroika, die wirtschaftlichen „Reformen“, vorantreibt – Preiserhöhungen, Rentabilitätstests für Arbeitsplätze, sogar Schließungen und Arbeitslosigkeit -, wird sich Ernüchterung breit machen, besonders wenn der anfängliche wirtschaftliche Schwung unter der Last der Bürokratie nachlässt.
Gorbatschow zielt darauf ab, die Ungleichheiten zu vergrößern, anstatt sie zu beseitigen. Die Bezahlung der Arbeiter*innen im Verhältnis zu den Ergebnissen wird den Unmut der Arbeiter*innen schüren. Ein bulgarischer Bürokrat, genauer gesagt der bulgarische DGB-Vorsitzende, erklärte dreist, was dieser Aspekt der Perestroika bedeuten würde: Es „ist nicht mehr möglich, Löhne und Gehälter auf nationaler Ebene festzulegen … Bisher haben wir nach der Arbeit bezahlt – nicht nach den Ergebnissen der Arbeit. Wir haben für die Zeit bezahlt, die die Leute gearbeitet haben, und niemand hat gefragt, was in dieser Zeit gemacht wurde.“ Das läuft auf eine harte Disziplinierung der Arbeit hinaus, auf den Versuch, die Produktion mit der Peitsche anzukurbeln, obwohl die Produktion enorm gesteigert werden könnte, wenn man sich auf die Initiative und Kontrolle der Arbeiter*innen selbst stützen würde. Aber das wird die Bürokratie niemals tun. Stattdessen ist ihre Politik ein Rezept für verstärkte Feindseligkeit. Die russische Arbeiter*innenklasse wird die Ideen der wirklichen Demokratie, der Arbeiter*innendemokratie, des Programms von Lenin und Trotzki wiederentdecken, und sie wird mit der Bürokratie, die sie unterdrückt, abrechnen.
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