[7. Juni 1933. Eigene Übersetzung. Der vollständige französische Artikel ist hier, eine englische Übersetzung hier]
1. Frage Simenons: Glauben Sie, dass die Rassenfrage zum Hauptfaktor bei den künftigen Ereignissen wird, die sich an die derzeitige Unordnung anschließen? Oder wird es die soziale Frage sein? Die wirtschaftliche? Die militärische?
Trotzkis Antwort
– Nein, ich bin weit davon entfernt, zu glauben, dass die Rasse ein entscheidender Faktor in der Entwicklung der nächsten Epoche sein wird. Die Rasse ist rohes anthropologisches Material – heterogen, unrein, vermischt (mixtum compositum) – ein Material, aus dem die historische Entwicklung die Halbfabrikate der Nationen schuf … Die Klassen und sozialen Gruppierungen, die auf ihren Grundlagen erwachsenden politischen Strömungen werden über das Schicksal der neuen Epoche entscheiden. Ich leugne natürlich nicht die Bedeutung der Rasseneigenschaften und -unterschiede; aber im Prozess der Evolution treten sie in den Hintergrund gegenüber der Technik der Arbeit und der Technik des Denken. Die Rasse ist ein statisches und passives Element, Geschichte ist Dynamik. Wie kann ein vergleichsweise unbewegliches Element von sich aus Bewegung und Entwicklung bestimmen? Alle Unterscheidungsmerkmale der Rassen verblassen vor dem Verbrennungsmotor, ganz zu schweigen vom Maschinengewehr.
Als Hitler beabsichtigte, ein der reinen germanisch-nordischen Rasse adäquates Staatssystem zu errichten, fand er nichts Besseres, als ein Plagiat an der lateinischen Rasse des Südens zu machen. Mussolini benutzte seinerseits im Kampf um die Macht – wenn auch mit einem anderen Ziel – die Soziallehre eines Deutschen oder deutschen Juden, Marx, den er zwei oder drei Jahre zuvor „unser aller unsterblicher Lehrer“ genannt hatte. Wenn die Nazis heute, im 20. Jahrhundert, vorschlagen, der Geschichte, der sozialen Dynamik und der Zivilisation den Rücken zu kehren und zur „Rasse“ zurückzukehren, warum dann nicht noch weiter zurückgehen: Die Anthropologie – ist es nicht wahr? – ist nur ein Teil der Zoologie. Wer weiß? Vielleicht würden Rassisten im Reich der Anthropopithecinen die höchsten und unbestreitbarsten Inspirationen für ihr eigenes Schaffen finden?
Diktaturen und Demokratien.
Frage: Kann man die Gruppe der Diktaturen als ein Beginn der Umgruppierung der Völker betrachten oder ist sie nur ein zeitweiliges Phänomen? Aber was kann man über die Gruppe der westlichen Demokratien sagen?
Trotzkis Antwort:
– Ich glaube nicht, dass die Gruppierungen der Staaten nach den Merkmalen Diktatur und Demokratie gehen werden.
Abgesehen von einer dünnen Schicht von Berufspolitikern leben Nationen, Völker, Klassen nicht von der Politik. Staatsformen sind nur Mittel für bestimmte, vor allem wirtschaftliche Aufgaben. Natürlich prädisponiert eine gewisse Ähnlichkeit der Staatsformen für eine Annäherung und erleichtert sie. Aber in letzter Instanz entscheiden doch materielle Erwägungen: wirtschaftliche Interessen und militärische Berechnung.
Betrachte ich die Gruppe der faschistischen (Italien, Deutschland) und quasi-bonapartistischen (Polen, Jugoslawien, Österreich) Diktaturen als episodisch und schnell vorübergehend? Ich kann mich, leider!, einer solch optimistische Prognose nicht anschließen. Der Faschismus wird nicht durch eine Psychose oder eine „Hysterie“ (so trösten sich Salon-Theoretiker vom Schlage des Grafen Sforza) erzeugt, sondern durch tiefste wirtschaftliche und soziale Krisen, die erbarmungslos den Leib Europas ganz zerfressen. Die gegenwärtige Konjunkturkrise hat die organischen Krankheitsprozesse nur verschärft. Die Konjunkturkrise wird unweigerlich einer Konjunkturbelebung Platz machen, wenn auch in geringerem Maße, als erwartet wird. Aber die allgemeine Lage in Europa wird sich nicht wesentlich verbessern. Nach jeder Krise werden die kleinen und schwachen Unternehmen noch schwächer oder fallen ganz; die kräftigen werden noch stärker. Das zerstückelte Europa stellt eine Kombination aus kleinen, mit einander auf Kriegsfuß stehenden Unternehmen im Vergleich zum Wirtschaftsgiganten Vereinigte Staaten dar. Die Lage Amerikas ist derzeit sehr schwierig: Der Dollar selbst hat das Knie gebeugt. Dennoch wird sich als Resultat der derzeitigen Krise das Welt-Kräfteverhältnis zum Nutzen Amerikas und zum Schaden Europas verändern.
Der Umstand, dass der alte Kontinent als Ganzes seine vergangene privilegierte Stellung verliert, führt zu einer außerordentlichen Verschärfung der Gegensätze zwischen den europäischen Staaten und innerhalb dieser Staaten zwischen den Klassen. Selbstverständlich haben diese Prozesse in den verschiedenen Ländern eine unterschiedliche Spannung erreicht. Aber ich spreche von gemeinsamen historischen Tendenzen. Der Anstieg der sozialen und nationalen Widersprüche erklärt aus meiner Sicht die Herkunft und die relative Stabilität der Diktatur.
Um meine Gedanken zu erläutern, erlaube ich mir, mich auf das zu berufen, was ich vor einigen Jahren zu dieser Frage zu sagen hatte, warum Demokratien der Diktatur für lange Zeit Platz machen. Lassen Sie mich hier ein wörtliches Zitat aus einem am 25. Februar 1929 geschriebenen Artikel anführen:
„Man sagt manchmal, dass wir hier mit rückständigen oder unreifen Staaten zu tun haben. Diese Erklärung ist für Italien kaum anwendbar. Aber selbst in Fällen, in denen sie wahr ist, erklärt sie nichts. Im neunzehnten Jahrhundert betrachtete man es als Gesetz, dass rückständige Länder auf der Treppe der Demokratie aufsteigen. Warum also drängt es sie im zwanzigsten Jahrhundert auf den Weg der Diktatur? … Die demokratischen Institutionen zeigen, dass sie dem Druck der zeitgenössischen Widersprüche nicht standhalten, den internationalen, den inneren, häufiger den internationalen und inneren zusammen. Mag das gut oder schlimm sein, es ist doch eine Tatsache.
In Analogie zur Elektrotechnik kann die Demokratie als ein System von Schaltern und Isolatoren gegen die zu starken Ströme des nationalen oder sozialen Kampfes bestimmt werden. Keine Epoche in der Menschheitsgeschichte war mit so vielen Gegensätzen gesättigt wie die unsere. Eine Überspannung des Stroms macht sich an verschiedenen Punkten des europäischen Netzes immer stärker bemerkbar. Unter einer zu großen Spannung von Klassen- und internationalen Widersprüchen schmelzen oder explodieren die Schalter der Demokratie. Dies ist der Kern der Kurzschlüsse der Diktatur. Zuerst versagen natürlich die schwächsten Schalter.“
Als ich diese Zeilen schrieb, stand an der Spitze Deutschlands noch eine sozialdemokratische Regierung. Es ist klar, dass der weitere Verlauf der Ereignisse in Deutschland, das niemand als rückständiges Land bezeichnet, meine Einschätzung nicht erschüttern konnte.
Es stimmt, dass in der Zwischenzeit eine revolutionäre Bewegung in Spanien nicht nur die Diktatur Primo de Riveras, sondern auch die Monarchie hinwegfegte. Gegenläufige Strömungen solcher Art sind in einem historischen Prozess unvermeidlich. Aber auf der Pyrenäenhalbinsel ist das innere Gleichgewicht noch lange nicht erreicht. Das neue spanische Regime hat seine Stabilität noch nicht unter Beweis gestellt.
Frieden oder Krieg?
Frage. – Denken Sie, dass die Ereignisse fließend abgehen werden oder halten Sie einen gewaltsamen Umsturz für erforderlich? Wie lange kann die derzeitige unbestimmte Lage noch andauern?
Antwort. – Der Faschismus, insbesondere der deutsche Nationalsozialismus, bringt für Europa unbestreitbar die Gefahr kriegerischer Erschütterungen. Es mag sein, dass ich mich von außen irre, aber mir scheint, dass man diese Gefahr in ihrem vollen Umfang unterschätzt. Wenn man eine Perspektive nicht von Monaten, sondern von Jahren – kaum von Jahrzehnten – nimmt, dann halte ich eine kriegerische Explosion von Seiten des faschistischen Deutschlands für vollkommen unvermeidlich. Es ist genau diese Frage, die für das Schicksal Europas entscheidend werden kann. Ich hoffe im Übrigen, mich in nächster Zeit zu diesem Thema in der Presse zu äußern.
***
Sie finden, dass ich die Lage düster einschätze? Ich bemühe mich bloß, Schlussfolgerungen aus den Fakten zu ziehen, wobei ich mich nicht nach der Logik von Sympathien und Antipathien, sondern nach der Logik des objektiven Prozesses richte. Dass unsere Epoche nicht eine friedlichen und ruhigen Wohlstands und politischen Komforts ist, muss ich hoffentlich nicht beweisen. Aber pessimistisch kann meine Einschätzung nur in dem Falle erscheinen, dass man den Gang der Geschichte mit einem zu kurzen Maßstab misst. Alle großen Epochen sehen aus der Nähe betrachtet sehr düster aus. Die Mechanik des Fortschritts ist, man muss es zugeben, sehr unvollkommen. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es Hitler oder der Kombination von Hitlern für immer oder auch nur für Jahrzehnte gelingen wird, diese Mechanik umzukehren. Sie werden dem Zahnrad viele Zähne ausbrechen, viele Hebel überdrehen, sie können Europa für eine Reihe von Jahren zurückwerfen. Aber ich bezweifle nicht, dass die Menschheit schließlich ihre Bahn finden wird. Eine Bürgschaft dafür ist die ganze Vergangenheit.
Wieder in den Dienst treten.
– Haben Sie noch irgendwelche Fragen an mich?“, fragte Trotzki geduldig.
– Nur eine, aber ich fürchte, sie ist indiskret.
Er lächelt und ermutigt mich mit einem Handzeichen, weiterzumachen.
– Die Zeitungen haben behauptet, Sie hätten kürzlich Abgesandte aus Moskau empfangen, die Sie auffordern sollten, nach Russland zurückzukehren?
Das Lächeln wird stärker.
– Das stimmt nicht, aber ich kenne den Ursprung der Nachricht. Es handelt sich um einen Artikel von mir, der vor zwei Monaten in der amerikanischen Presse erschienen ist. Darin sagte ich unter anderem, dass ich angesichts der aktuellen russischen Politik bereit wäre, wieder zu dienen, wenn irgendeine Gefahr das Land bedrohen würde.
Er ist ruhig und still.
– Würden Sie wieder in den aktiven Dienst treten?
Er nickt zustimmend, während einer der jungen Männer, wahrscheinlich für den abendlichen Fischfang, Netze in einem der Boote anbringt.
Rückkehr von Saint-Cloud, ich meine Prinkipo, und bateau-mouche.
Am Abend speise ich im La Régence. Im Prospekt heißt es: „Das elegante Restaurant, in dem Sie von Damen der russischen Aristokratie empfangen werden… „
Denn in Konstantinopel gibt es immer noch tausend ausgewanderte Russen, und abends herrscht wie in Paris, Berlin oder anderswo die Sehnsucht nach Balalaikas, Piroschoks, Wodka und Schaschliks.
Zu dieser Zeit schläft Trotzki auf seiner Insel, die von den Midinettes und den Kattun verlassen wurde.
Schreibe einen Kommentar