Franz Mehring: Bochum

[Die Neue Zeit, IX. Jahrgang 1890-91, II. Band, Nr. 39, S. 393-397]

Berlin, den 15. Juni.

Ein blindes Huhn findet gelegentlich auch ein Korn, und ein amtliches Blatt der königlich sächsischen Regierung traf ausnahmsweise einmal den Nagel auf den Kopf, als es mit dem einen Worte: Bochum künftighin die nationalliberalen Tugendhelden in wilde Flucht zu werfen verhieß. Oder vielmehr: es traf den Nagel wenigstens an einer Ecke. Denn Bochum ist mehr als die Enthüllung national- liberaler Ehrbarkeit. Es greift viel weiter nach rechts und viel weiter nach links, und es greift am Ende auch tief in die Mitte der Partei, aus welcher es den Todesstoß empfangen hat und in welcher die Fusangel sehr spärlich gesäet sind gegenüber den Ballestrem und Schalscha und den sonstigen agrarischen und kapitalistischen Stützen des Systems, das vor dem Landgerichte in Essen gerichtet worden ist.

Mögen sich die Heuchler der herrschenden Klassen dieses Bochum, je nach den Bedürfnissen ihrer politischen Taktik, gegenseitig an die Rockschöße hängen oder von den Rockschößen knöpfen: das ist ein Spiel für politische Kinder und darf ernsthafte Leute auch nicht einen Augenblick täuschen. Im Osten funktionieren die Einschätzungskommissionen unter dem Vorsitze der Landräte ebenso glatt, wie im Westen unter dem Vorsitze der Bürgermeister, und mit Recht erinnert der „Vorwärts“ an jenen schlesischen Magnaten, der, mit zarterem Gewissen belastet als seine Genossen, gegen seine zu geringe Einschätzung Einspruch erheben wollte und daran verhindert wurde, weil ja sonst auch seine Standesgenossen über die Klinge springen müssten. Insofern hat die „Nationalzeitung“ ganz Recht, wenn sie die sittlich Entrüsteten von links und rechts her ruhig fragt: „Wozu der Lärm? Dergleichen kommt ja überall vor!“ Man darf ihr diesen kaltblütigen Zynismus beileibe nicht als mildernden Umstand anrechnen, denn er wird ihr nur durch die. Todesangst abgepresst, und wäre sie nicht die Nächste zu Bochum – wie würde gerade sie über Bochum so tapfer schmähen! Aber Bochum ist freilich im heutigen Klassenstaate der Überall und Nirgends, den man überall findet und nirgends greift. Hat doch der Staatsanwalt in Essen dem Herrn Baare, der – Bochum gemacht hat, ein hohes Ehrenzeugnis ausgestellt, und dem Herrn Fusangel, der – Bochum enthüllt hat, eine niedliche kleine Gefängnisstrafe von zwei Jahren zugedacht!

Zwei Jahre Gefängnis sind das höchste Maß der Strafe, welche das deutsche Strafgesetz nicht nur über die Beleidigung, sondern auch über die Verleumdung verhängt, Wer durch die boshafteste Nachrede wider besseres Wissen die Ehre seines Mitmenschen vernichtet, kann nicht härter als mit zwei Jahren Gefängnis bestraft werden. Und wer sonst das Risiko dieser Strafe laufen will, kann sich dafür Betrug und Erpressung, Diebstahl und Hehlerei, Blutschande und Kuppelei, ja – unter mildernden Umständen – selbst einen Totschlag leisten, Es kennzeichnet den heutigen Klassenstaat, das sein berufsmäßiger Ankläger eine Strafe von dieser Höhe gegen einen Mann beantragt, der dem Gemeinwohle einen unbestreitbaren Dienst geleistet hat durch die Aufdeckung großartiger, auf Kosten der Staatskassen betriebener Steuerprellereien, und der gegen den subtilen Beleidigungsparagrafen nur insofern verstoßen hat, als er bei seinen Anklagen in nebensächlichen Dingen irrte und, als er, durch boshafte Angriffe der Schuldigen gereizt, auf einen Schelmen anderthalbe setzte. Im Wesen der Sache hat er den Beweis für seine Behauptungen erbracht, so erschöpfend und so schlüssig, wie er selten bei Beleidigungsklagen erbracht wird: das Corriger la fortune – gegen über diesen Leistungen des abgestempelten Patriotismus erweist sich die „deutsch Sprak“ allerdings als „ein arm Sprak,“ als „ein plump Sprak,“ denn wir haben kein Wort wie fortune, das zugleich Glück und Vermögen bedeutet, und das nur „korrigiert“ zu werden braucht, um gleichzeitig dem Monsieur Riccaut zu seinen Spieler- und dem Herrn Baare zu seinen Steuergewinnsten zu verhelfen – war in Bochum gang und gäbe, selbst über die Höhe ihrer eigenen Einkommen befanden sich die Mitglieder der Einschätzungskommission in beklagenswerter Unkenntnis, und wenn sie durch ihre weltfremde Naivität vielleicht entschuldigt sein mögen, so fand sich unter all den „angesehenen“ Personen, die zu niedrig eingeschätzt wurden, auch nicht ein armer Schelm, der seine Bereicherung auf Kosten des Staats abzulehnen für angezeigt hielt. Auf Kosten des Staats oder richtiger: auf Kosten der arbeitenden Klassen. Denn der Fiskus kam schon wieder zu seinem Rechte, indem er sich für das, was ihm die Reichen durch eine umfassende Steuerprellerei entzogen, an den Armen erholte, Mit bewundernswerter Ausdauer haben namentlich die rheinisch-westfälischen Großindustriellen für die Einführung der Lebensmittelsteuern immer wieder die Höhe der Gemeindesteuer geltend gemacht, die sich in einzelnen Orten, wie gerade auch in Bochum selbst, auf fünf- bis sechshundert Prozent der direkten Staatssteuer belief, Dieser scheinbare und scheinheilige Vorwand für die steuerliche Belastung jedes den Massen zugänglichen Genuss- und Lebensmittels ist nunmehr in seinem Nichts enthüllt worden, Wären die reichen Leute richtig zur Staatssteuer eingeschätzt worden, so würde die Gemeindesteuer nicht zu so ungeheuerlichen Prozentsätzen angeschwollen sein. Herrn Baare, dem Generaldirektor des „Bochumer Vereins für Bergbau und Gussstahlfabrikation,“ wird diese Erwägung freilich nicht viel Kopfzerbrechen machen. Hat er doch, während er zwei Drittel seines Einkommens der Steuer entzog und während er den Beamten des Werks durch eine doppelte Buchführung ermöglichte, wenigstens ein Drittel ihrer Gehälter der Einschätzung vorzuenthalten, „seinen“ achttausend Arbeitern mit der Genauigkeit des Exekutors die Steuer gleich von ihren Löhnen abgezogen!

Herr Baare ist vermutlich der geschickteste und rührigste Vorkämpfer, den die deutsche Großindustrie besitzt; er war immer voran, wenn es galt, die Lasten der Arbeiter zu vermehren und ihre Rechte zu vermindern; als Mitglied des Volkswirtschaftsrats und des Staatsrats, als rechte Hand des Fürsten Bismarck in allen sozial-wirtschaftlichen Fragen, gehörte er zu den vornehmsten Paten der Lebensmittelsteuern und des Sozialistengesetzes, Und auch, als sein Gönner untergegangen war, schwamm und schwimmt er immer noch oben, sintemalen über einen noch so mächtigen Einzelwillen ein noch mächtigerer Einzelwillen kommen kann, aber auch der mächtigste Einzelwillen ohnmächtig ist gegenüber den ökonomischen Machtverhältnissen, Sic volo, sic jubeo: das ist ein Programm gegenüber einem von Größenwahn verblendeten Bismarck, aber es ist kein Programm gegenüber einer pfiffig rechnenden Bourgeoisie Als Typus dieser Bourgeoisie löste Herr Baare spielend die Aufgabe, über welche Fürst Bismarck stolperte; er und seinesgleichen sandten das Schiff des gesetzlichen Arbeiterschutzes, das vor mehr als Jahresfrist mit tausend Masten in den Ozean stach, als elendes Wrack in den Hafen zurück.

Für einen Mann von solchem Verdienste und solchen Verdiensten begreift es sich leicht, das er die Anklage auf systematische Steuerhinterziehung als eine Bagatelle behandelte, die gar nicht erst der Rede wert sei, das er vor den gerichtlichen Schranken mit hoch geschwelltem Selbstgefühle auf das hinwies, was er für das Vaterland im Allgemeinen und die arbeitenden Klassen im Besonderen getan habe, das er sich selbst als das bewegende, im Großen und Kleinen alles bewegende Triebrad des – nächst Krupp in Essen – größten Gussstahlwerks – Im Reiche pries, Es war eine dramatische Szene, als die Verteidigung in diesen Lobgesang mit der vorwitzigen Frage einfiel, ob dem Herrn Baare denn auch die auf „seinem“ Werke betriebenen Stempelfälschungen bekannt seien, als sie gar behauptete, er wisse darum, dass bei Lieferungen von Schienen, Lokomotivachsen, Herzstücken, Rädern, Bandagen etc. unbrauchbare und von den „Schienenkiekern,“ den Revisoren der abnehmenden Eisenbahnverwaltungen, verworfene Stücke durch nachgemachte Stempel beglaubigt und dennoch in den Verkehr gebracht worden seien. Unter diesem Schlage, der ihn eines gemeingefährlichen und schändlichen Betruges bezichtigte, bebte Herr Baare einen Augenblick zusammen; er wollte mit einem Male nur selten auf „seinem“ Werke gewesen sein, und seinen bleichen Lippen entflohen die geflügelten Worte: „Geflickte Schienen laufen auf jedem Werke mit unter;“ ja, sein Rechtsbeistand zog in völliger Verwirrung den Strafantrag gegen Fusangel zurück, soweit er sich nicht nur auf die Steuerhinterziehungen beschränkte, Aber mit der ersten Überraschung verflog auch die Verwirrung, Herr Baare und sein Rechtsbeistand verlangten strengste Untersuchung; der Staatsanwalt ging mit solchem Eifer darauf ein, das er schon nach wenigen Tagen, ehe alle vorgeschlagenen Zeugen vernommen waren und ehe auch nur einer derselben vereidigt war, feierlich erklären konnte, Herrn Baare treffe nicht die geringste Schuld an etwaigen Unregelmäßigkeiten; der offiziöse Telegraf fügte dieser Erklärung aus Eigenem hinzu, es set überhaupt von Unregelmäßigkeiten so gut wie nichts erwiesen, und dann nahm Herr Baare selbst wieder das Wort, indem er Briefe veröffentlichte, aus denen urkundlich hervorgeht, das Stempel allerdings auf dem Bochumer Werke gefertigt worden seien, aber höchst korrekte und legitime Stempel, Stempel, welche die „Schienenkieker“ selbst für ihren Gebrauch bestellt hätten. Ob die Anfertigung solcher Stempel auf dem Werke selbst, zu dessen Kontrolle sie bestimmt sind, nicht an sich schon ein Missbrauch ist, der naturnotwendig andere Missbräuche erzeugen muss, das ist eine Frage, die Herrn Baare. offenbar nichts angeht; genug, „sein“ Werk hat nur in „korrekter“ Weise einen „korrekten“ Auftrag ausgeführt, der gar nicht verheimlicht worden ist und auch gar nicht verheimlicht werden brauchte.

So springen die Hintertüren auf, und gleich fünf für eine, kaum das die Vordertür eingerannt ist, Herr Baare ist so rein, wie ein Kind unterm Badeschwamm, und wäre er es nicht, so käme er doch nicht auf die Anklagebank. Dahin gehört Fusangel und zwar von Rechtswegen, denn was rüttelte er in demagogischem Übermute an den Stützen der Gesellschaft? Aber Herr Baare gehört nicht dahin und kommt auch nicht dahin, einfach, weil sich Gesellschaft und Staat von heute in ihm verkörpern und so hochmögende Potenzen sich doch un möglich freiwillig aufs Armesünderbänkchen setzen können. Weshalb nicht, das hat ein hoher Staatswürdenträger von unanfechtbarer Integrität vor wenigen Jahren erst in einem amtlichen Schriftstücke dargelegt, und es ist dem „Vorwärts“ zu danken, das er in seiner Nummer vom 10. Juni die betreffenden Aktenstücke veröffentlicht hat. Aus denselben geht die auch sonst schon bekannte Tatsache hervor, dass ähnliche Fälschungen, wie sie jetzt dem „Bochumer Verein“ Schuld gegeben werden, zwanzig Jahre lang auf dem Gussstahlwerke in Osnabrück betrieben worden sind. In einer besonderen Werkstatt war ein Graveur mit Anfertigung der falschen Stempel beschäftigt; außerdem hatte der sogenannte „Fallbär,“ auf dem die Eisenstücke auf ihre Zerreißbarkeit geprüft wurden, statt der vorschriftsmäßigen Fundierung eine Gummiunterlage erhalten, damit die Schlagwirkung des Hammers abgeschwächt werde; von dem Umfange des Schwindels gibt einen ungefähren Begriff die Tatsache, das im Augenblicke der Entdeckung nicht weniger als fünfundzwanzig gänzlich unbrauchbare Schienen gefunden wurden, die bereits den gefälschten Stempel trugen. Es war kaum denkbar, das so kostspielige und weitläufige Anstalten zur Betreibung eines systematischen Betrugs ohne Kenntnis der Direktoren getroffen worden seien, aber obgleich sich der Regierungsrat Seydel in Hannover in seinem, am 29. Juli 1887 dem Minister v. Maybach abgestatteten Berichte dieser Einsicht schwer verschließen konnte, glaubte er doch aus Rücksicht auf die geschäftliche Schädigung des Osnabrücker Stahlwerkes und die schweren Folgen, die sich daraus für Tausende von Arbeitern ergeben könnten, von einem unmittelbaren Strafverfahren gegen die Direktoren abraten zu sollen. Er empfahl vielmehr, mit denselben „schleunigst in persönliche Verbindung zu treten“ und sie „nachdrücklichst“ zu veranlassen, ihrerseits gegen die belasteten Beamten und Arbeiter des Strafverfahren zu beantragen, Herr v. Maybach schlug einen Mittelweg ein; er ordnete an, das die Sache dem Staatsanwalte übergeben werde „zur strafrechtlichen Verfolgung der Beteiligten“ und fügte hinzu: „Die mögliche bedenkliche Tragweite der Sache für die betreffende Arbeiterbevölkerung wird, wie ich annehme, demselben nicht entgehen,“ In der Tat entging sie ihm nicht; nicht die Direktoren wurden angeklagt – als Zeugen beschworen sie, von Nichts gewusst zu haben – sondern außer einem Ingenieur nur Arbeiter. Die weiteren, sehr interessanten Einzelheiten werden den Lesern bereits aus dem „Vorwärts“ bekannt sein oder sie können dort mit leichter Mühe nachgelesen werden.

Hier kam es nur auf die Haltung des Ministers v. Maybach an. Er war ein Beamter von makelloser Rechtschaffenheit; es wird ihm immer zur Ehre: gereichen, wie er bei der Verstaatlichung der preußischen Eisenbahnen durch diskretes, energisches und schnelles Handeln den hungrigen Börsenwölfen die gehoffte Beute entriss Und lässt sich ihm persönlich ein Vorwurf daraus machen, das er in dem Osnabrücker Falle dem Staatsanwalt unter den Fuß gab, ein Auge zuzumachen oder vielmehr, da die Gerechtigkeit ja beide Augen geschlossen haben soll, mit dem einen Auge ein wenig zu blinzeln? Hätte ein rücksichtsloses Vorgehen nicht nur sicher das Osnabrücker Gussstahlwerk, sondern auch vielleicht die ganze Gussstahlindustrie des Reiches tödlich getroffen, hätte es nicht nur sicher Tausende, sondern auch vielleicht Zehntausende von Arbeitern aufs Pflaster geworfen? Was kann er dafür, das wir in einer Welt leben, die nicht mehr auf dem Grundsatze beruht: fiat justitia et pereat mundus! sondern nur noch auf dem Grundsatze: fiat mundus et pareat justitia?

Nein, Herr v. Maybach kann nicht dafür, und Herr Baare kann auch nicht dafür. So verschieden sie ihrem persönlichen Werte nach sein mögen, so sind sie doch einig in der sozialpolitischen Erkenntnis, das es ohne „geflickte Schienen“ halt nimmermehr geht. Industrie und Verkehr, Justiz und Moral, Alles rollt auf „geflickten Schienen,“ und wie viele Menschen darüber die Hälse brechen mögen, es sind ihrer immer nur Wenige, verglichen mit den Unzähligen, welche – siehe die Anweisung des Ministers v. Maybach an den Staatsanwalt! – eine ernsthafte Reparatur der „geflickten Schienen“ in der Welt von heute kosten würde.

Das ist die historische Moral von Bochum. Weil es sein muss, so wird es fernerhin sein unter den jetzigen Verhältnissen, wie es bisher war und wie es augenblicklich ist. Und diese Erkenntnis ist am Ende auch ein wenig mehr wert, als das lüsterne Verlangen, eine so mächtige Stütze von Gesellschaft und Staat, wie den Herrn Baare, auf dem Bänkchen der armen Sünder zu sehen.


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